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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Einfluss des Lebensalters
Seelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen
gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden
Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss.

§. 70.

3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute
Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen
darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über-
wiegend disponiren.

Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten,
an der Realität seines Vorkommens -- und zwar nicht nur des Blöd-
sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten -- ist aber nicht
im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim,
Guislain, *) Zeller, **) wir selbst haben Fälle von Kindern, die an
ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren
litten, beobachtet; Foville ***) erzählt zwei derartige Fälle, Jördens +)
berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine
Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig
ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz ++) erzählt
einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit
Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen).

Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und
vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers
Angaben +++) auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen.
Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt
Brandeis 4 Selbstmordfälle 11- und 12jähriger Kinder vor, 1) in Nort-
hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser,
nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war, 2) und es liessen
sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3)

Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils
auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung

*) Friedreieh, allg. Pathol. d. psych. Kr. 1839. p. 213. ff.
**) Bericht etc. Journ. f. Psych. I. 1. p. 17.
***) Art. Alienation. Dict. de med. I. p. 516.
+) Hufeland, Journ: Bd. IV. p. 224.
++) Med. Jahrb. d. östreich. Staats. Merz 1844. p. 257. S. ferner Schmidts
Jahrbücher. 1842. p. 73.
+++) Beiträge z. med. Statistik. 1825.
1) Müller, östreich. med. Jahrbücher. 1844. Juli. p. 44.
2) Annal. med. psych. Jan. 1844. p. 99.
3) Vgl. Falret, do l'hypocondrie et du suicide. Par. 1822. p. 14.

Einfluss des Lebensalters
Seelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen
gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden
Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss.

§. 70.

3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute
Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen
darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über-
wiegend disponiren.

Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten,
an der Realität seines Vorkommens — und zwar nicht nur des Blöd-
sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten — ist aber nicht
im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim,
Guislain, *) Zeller, **) wir selbst haben Fälle von Kindern, die an
ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren
litten, beobachtet; Foville ***) erzählt zwei derartige Fälle, Jördens †)
berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine
Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig
ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz ††) erzählt
einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit
Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen).

Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und
vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers
Angaben †††) auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen.
Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt
Brandeis 4 Selbstmordfälle 11- und 12jähriger Kinder vor, 1) in Nort-
hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser,
nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war, 2) und es liessen
sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3)

Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils
auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung

*) Friedreieh, allg. Pathol. d. psych. Kr. 1839. p. 213. ff.
**) Bericht etc. Journ. f. Psych. I. 1. p. 17.
***) Art. Aliénation. Dict. de med. I. p. 516.
†) Hufeland, Journ: Bd. IV. p. 224.
††) Med. Jahrb. d. östreich. Staats. Merz 1844. p. 257. S. ferner Schmidts
Jahrbücher. 1842. p. 73.
†††) Beiträge z. med. Statistik. 1825.
1) Müller, östreich. med. Jahrbücher. 1844. Juli. p. 44.
2) Annal. med. psych. Jan. 1844. p. 99.
3) Vgl. Falret, do l’hypocondrie et du suicide. Par. 1822. p. 14.
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[108/0122] Einfluss des Lebensalters Seelenstörung darzubieten scheine, doch in nicht wenigen Fällen gerade in der ehelichen Verbindung und den daraus erwachsenden Missständen die Hauptquelle der Erkrankung gesucht werden muss. §. 70. 3) Lebensalter. Keine Lebensepoche gewährt eine absolute Immunität gegen Geisteskrankheiten, aber sämtliche Statistiken stimmen darin überein, dass gewisse Altersstufen besonders und sehr über- wiegend disponiren. Im Kindesalter (unter 16 Jahren) ist das Irresein zwar selten, an der Realität seines Vorkommens — und zwar nicht nur des Blöd- sinns, sondern aller Formen der Geisteskrankheiten — ist aber nicht im Geringsten zu zweifeln. Haslam, Perfect, Esquirol, Spurzheim, Guislain, *) Zeller, **) wir selbst haben Fälle von Kindern, die an ausgesprochener Manie in einem Alter von 6, 7, 9, 10, 12, 13 Jahren litten, beobachtet; Foville ***) erzählt zwei derartige Fälle, Jördens †) berichtet über den merkwürdigen Fall eines Knaben, der durch kleine Glassplitter, die in seine Fusssohlen eingedrungen waren, tobsüchtig ward und es bis zur Entfernung der Splitter blieb. Stolz ††) erzählt einen sehr interessanten Fall von Manie eines 7jährigen Kindes mit Sprachlosigkeit (und schwerer Degeneration der vordern Gehirnlappen). Auch melancholische Zustände kommen vor (Zeller l. c.), und vor Allem die Selbstmorde im kindlichen Alter haben nach Caspers Angaben †††) auf eine traurige Weise in neueren Zeiten zugenommen. Im Sommer 1843 kamen kurz nach einander bei und in der Stadt Brandeis 4 Selbstmordfälle 11- und 12jähriger Kinder vor, 1) in Nort- hampton stürzte sich vor Kurzem ein 13jähriges Mädchen ins Wasser, nachdem sie von ihrem Vater gezankt worden war, 2) und es liessen sich derartige Fälle noch in ziemlicher Menge aufführen. 3) Die Fälle wirklicher Geisteskrankheit bei Kindern scheinen theils auf einer excessiven originären, oder durch zweckwidrige Behandlung *) Friedreieh, allg. Pathol. d. psych. Kr. 1839. p. 213. ff. **) Bericht etc. Journ. f. Psych. I. 1. p. 17. ***) Art. Aliénation. Dict. de med. I. p. 516. †) Hufeland, Journ: Bd. IV. p. 224. ††) Med. Jahrb. d. östreich. Staats. Merz 1844. p. 257. S. ferner Schmidts Jahrbücher. 1842. p. 73. †††) Beiträge z. med. Statistik. 1825. 1) Müller, östreich. med. Jahrbücher. 1844. Juli. p. 44. 2) Annal. med. psych. Jan. 1844. p. 99. 3) Vgl. Falret, do l’hypocondrie et du suicide. Par. 1822. p. 14.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/122>, abgerufen am 24.04.2024.