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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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dem weiblichen Geschlechtsleben.
§. 87.

Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand
und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib-
lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab.
Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes
Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen
nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich
aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal-
Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament-
lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger-
schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten
sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint
uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch
das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht
Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu-
lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische)
Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der
Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio-
den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt-
bildung *) und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes
der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene
Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her-
rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die
den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern
vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis)
vorkommen.

Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf
des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten,
deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig
erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder
etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes,
noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr
ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser
Fälle erforderlich.

Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der
letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist
in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern,

*) Vgl. Rokitansky, pathol. Anatomie. II. p. 237 sqq.
10*
dem weiblichen Geschlechtsleben.
§. 87.

Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand
und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib-
lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab.
Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes
Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen
nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich
aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal-
Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament-
lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger-
schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten
sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint
uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch
das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht
Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu-
lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische)
Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der
Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio-
den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt-
bildung *) und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes
der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene
Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her-
rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die
den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern
vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis)
vorkommen.

Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf
des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten,
deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig
erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder
etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes,
noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr
ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser
Fälle erforderlich.

Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der
letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist
in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern,

*) Vgl. Rokitansky, pathol. Anatomie. II. p. 237 sqq.
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[147/0161] dem weiblichen Geschlechtsleben. §. 87. Die Schwangerschaft, noch mehr der Puerperalzustand und die Lactation geben aber unter allen Einflüssen aus dem weib- lichen Geschlechtssysteme die wichtigsten Ursachen des Irreseins ab. Unter ihnen hat die Schwangerschaft am seltensten ausgebildetes Irresein in der Form tiefer Schwermuth oder Manie, häufiger einen nur milden und mässigen psychischen Depressionszustand, der sich aber oft genug sichtlich als erstes Stadium zu der späteren Puerperal- Manie verhällt, zur Folge. Die directen psychischen Einflüsse, nament- lich die gemischten Gemüthsbewegungen, die eine erstmalige Schwanger- schaft begleiten, können hier von Bedeutung bei vorher Disponirten sein; aber von viel wichtigerem pathogenetischem Moment scheint uns die allmählig zunehmende Beeinträchtigung der Respiration durch das Hinaufgeschobenwerden des Zwerchfells zu sein, welche leicht Störungen im kleinen Kreislauf und eben damit Störungen der Blutcircu- lation im Kopfe zur Folge haben kann. Dass eine (subinflammatorische) Hyperämie der dura mater und der Innenfläche des Schädels in der Schwangerschaft ganz gewöhnlich, und schon in ihren früheren Perio- den, zu Wege kommt, diess zeigt die sogen. puerperale Osteophyt- bildung *) und wir wagen, die definitive Aufklärung dieses Punktes der pathologischen Anatomie überlassend, die Vermuthung, dass jene Hyperämieen mechanische, von Circulationsstörung im Thorax her- rührende seien, wofür wir die Thatsache anführen können, dass die den puerperalen am meisten gleichenden Schädelosteophyte bei Männern vorzugsweise mit gleichzeitigen chronischen Brustkrankheiten (Phtisis) vorkommen. Schon während der Geburt und von da an im ganzen Verlauf des Puerperiums können schwere psychische Störungen auftreten, deren Zusammenfassung als Puerperal-Wahnsinn indessen unzweckmässig erscheint, da sie in Bezug auf Entstehungsweise und Form weder etwas vom sonstigen Irresein auf characteristische Weise Distinktes, noch unter sich gemeinschaftlich Eigenthümliches haben. Vielmehr ist in practischer Beziehung gerade eine genauere Scheidung dieser Fälle erforderlich. Jene Zustände von grosser Aufregung und Tobsucht, die in der letzten Periode des Geburtsacts selbst vorkommen, und sich meist in grosser Feindseligkeit gegen das Kind, (Tödtung desselben) äussern, *) Vgl. Rokitansky, pathol. Anatomie. II. p. 237 sqq. 10*

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/161>, abgerufen am 23.04.2024.