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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Symptomatologie der Hypochondrie.
Gegensatz -- die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison-
nante -- wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden.

Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser
Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden
Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. --
Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter
den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen,
wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der
folgenden Symptomotologie von selbst ergeben.

§. 91.

Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne
äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen,
besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung,
Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be-
lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis-
sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss-
trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens-
überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit,
sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. -- Von einem un-
bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf
dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi-
tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz-
licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines
fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.)
werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind-
lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle
diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst-
sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf
die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die
Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der
herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt
und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer,
gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver-
muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb
bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten
geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective
Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von
Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind
glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer-
den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank-

Symptomatologie der Hypochondrie.
Gegensatz — die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison-
nante — wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden.

Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser
Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden
Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. —
Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter
den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen,
wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der
folgenden Symptomotologie von selbst ergeben.

§. 91.

Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne
äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen,
besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung,
Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be-
lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis-
sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss-
trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens-
überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit,
sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. — Von einem un-
bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf
dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi-
tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz-
licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines
fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.)
werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind-
lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle
diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst-
sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf
die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die
Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der
herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt
und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer,
gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver-
muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb
bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten
geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective
Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von
Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind
glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer-
den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank-

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[155/0169] Symptomatologie der Hypochondrie. Gegensatz — die gewöhnlich sogenannte (wahnsinnige) Folie raison- nante — wir bei den psychischen Exaltationszuständen finden werden. Dem denkenden und kundigen Leser wird die eigene Einzeldurchführung dieser Analogie, welche eine das Verständniss fördernde Parallele zwischen beiden Grundformen krankhafter Gemüthszustände, an die Hand gibt, empfohlen. — Dass übrigens der Hypochondrie ihre Stelle wirklich nirgends anders als unter den psychischen Krankheiten, zu denen sie schon von Sauvages und Cullen, wie von Pinel, Georget und Falret gezählt wurden, gebührt, wird sich aus der folgenden Symptomotologie von selbst ergeben. §. 91. Symptome. Die Stimmung der Kranken fängt an, sich ohne äussere Motive zu verändern; sie werden niedergeschlagen, verdrossen, besorgt, mürrisch, zeigen grössere Empfindlichkeit, die Neigung, Alles auf sich zu beziehen, und fühlen sich leicht von Allem be- lästigt und ermüdet. Anfangs wechselt dieser Zustand mit Remis- sionen und die Paroxismen erscheinen als ärgerliche, unruhige, miss- trauische Laune oder als psychische Kälte, die sich bis zum Lebens- überdrusse, als Angst, die sich zur Verzweiflung mit Unmöglichkeit, sich äusserlich zu beherrschen, steigern kann. — Von einem un- bestimmten, aber lebhaften Krankheitsgefühle wird der Kranke auf dunkle Weise belästigt und beunruhigt; alle Provinzen des sensi- tiven Nervensystems können zum Sitze krankhafter, oft sehr schmerz- licher Empfindungen (Formication, Kälte und Hitze, Fortkriechen eines fremden Körpers, Leerheit, Abgestorbensein, Stechen, Zerreissen etc.) werden, und auch die höheren Sinne zeigen oft vermehrte Empfind- lichkeit oder grössere Stumpfheit und wirkliche Hallucinationen. Alle diese anomalen Empfindungen drängen sich stets lebhaft ins Bewusst- sein, wecken und unterhalten beständig ein Vorstellen, das sich auf die Erkrankung, auf ihre verschiedenen möglichen Arten und auf die Heilung bezieht; alle Sensationen werden belauscht und im Sinne der herrschenden trüben und ängstlichen Stimmung ernsthaft commentirt und analysirt; es wird aus ihnen auf das Vorhandensein schwerer, gefährlicher Krankheiten geschlossen, und häufig werden solche Ver- muthungen in einer Uebertriebenheit, deren sich der Kranke halb bewusst ist, und in möglichst drastischen und pittoresken Worten geäussert. Der Kranke, der dabei ganz unbedeutende objective Symptome darbieten kann, spricht von Apoplexie, von Halbtod, von Vertrocknung oder Versteinerung des Herzens; seine Nerven sind glühende Kohlen, sein Blut ist siedendes Oel etc., und gerne wer- den die schwersten, oder ganz neue, noch nie dagewesene Krank-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/169>, abgerufen am 19.04.2024.