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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten.
sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel-
hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils
als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit,
theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf
einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch
viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind-
lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen,
Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische
Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande-
nen Gehirnaffection dienen mögen.

§. 4.

Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und
Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor-
stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn,
über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom
empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der
Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris-
mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib-
lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen
über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der
Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen
hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma-
chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver-
mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug "um gelegentlich für Geist
passiren zu können" bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver-
möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer
nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em-
pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar.
Diese wird vielmehr -- auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes
zu behaupten -- die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem
Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche
zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und
Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie
des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven,
die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile
betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe
aller Gehirnzustände sein.

Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab-
stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen
des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im

Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten.
sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel-
hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils
als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit,
theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf
einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch
viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind-
lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen,
Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische
Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande-
nen Gehirnaffection dienen mögen.

§. 4.

Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und
Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor-
stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn,
über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom
empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der
Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris-
mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib-
lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen
über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der
Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen
hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma-
chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver-
mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug „um gelegentlich für Geist
passiren zu können“ bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver-
möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer
nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em-
pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar.
Diese wird vielmehr — auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes
zu behaupten — die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem
Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche
zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und
Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie
des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven,
die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile
betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe
aller Gehirnzustände sein.

Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab-
stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen
des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im

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[5/0019] Verhältniss des Gehirns zu den psych. Acten. sehen wir die Bewegung der willkührlichen Muskeln, eine unzweifel- hafte Gehirnfunction, bei sehr vielen Geisteskranken verändert, theils als erhöhte Activität und Energie, theils als cataleptische Starrheit, theils als jene Paralyse, welche gleichen Schritt mit dem Verlauf einer gewissen Form des Irreseins (des Blödsinns) hält, und noch viele andere Anomalieen der Gehirnfunctionen (verringerte Empfind- lichkeit für Schmerz und Temperatur, Schlaflosigkeit, Convulsionen, Kopfcongestion etc.) werden bei Geisteskranken als mehr accessorische Phänomene beobachtet, welche zu weiterer Bestätigung einer vorhande- nen Gehirnaffection dienen mögen. §. 4. Indem man durch die Thatsachen genöthigt das Vorstellen und Wollen in das Gehirn verlegt, sind immer noch verschiedene Vor- stellungen über das Verhältniss dieser psychischen Acte zum Gehirn, über das Verhältniss der Seele zur Materie überhaupt möglich. Vom empirischen Standpunkte aus haben wir vor allem die Thatsache der Einheit von Leib und Seele festzuhalten und müssen es dem Aprioris- mus überlassen, die Seele ohne Beziehung auf den Leib, eine leib- lose Seele, zu untersuchen und sich mit abstracten Betrachtungen über ihre Immaterialität und Einheit im Gegensatz zur Vielheit der Materie etc. zu begnügen. Die Hypothesen, die man schon ersonnen hat, um jene unerklärliche Einheit für die Reflexion fasslicher zu ma- chen, von jenen feinen Fluidis an, die zwischen Leib und Seele ver- mitteln sollen, jenen Materien, dünn genug „um gelegentlich für Geist passiren zu können“ bis zu dem System prästabilirter Harmonie, ver- möge dessen Leib und Seele niemals auf einander, sondern immer nur mit einander wirken sollen, diese Hypothesen sind für die em- pirische Betrachtung gleich unwiderleglich und gleich unannehmbar. Diese wird vielmehr — auch auf die Gefahr, etwas fast allzu Plattes zu behaupten — die Seelenthätigkeiten in derjenigen Einheit mit dem Leibe und namentlich mit dem Gehirne auffassen müssen, welche zwischen Function und Organ besteht, sie wird das Vorstellen und Streben in gleicher Weise als die Thätigkeit, die specifische Energie des Gehirns betrachten müssen, wie sie die Leitung in den Nerven, die Reflexaction im Rückenmarke etc. als die Functionen dieser Theile betrachtet, und so wird dieser Betrachtungsweise die Seele die Summe aller Gehirnzustände sein. Nicht genug aber ist bei Annahme solcher Betrachtungsweise vor dem ab- stracten und seichten Materialismus zu warnen, der die allgemeinsten Thatsachen des menschlichen Bewusstseins über Bord werfen möchte, weil sie sich nicht im

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/19>, abgerufen am 18.04.2024.