zärtlich liebt, würden in diesen Anfällen die ersten Opfer seiner Mordsucht sein. "Meine Mutter," ruft er mit einer schrecklichen Stimme, "rette dich, oder ich bringe dich um!"
Vor dem Anfalle klagt er über grosse Müdigkeit, kann jedoch nicht schlafen; er fühlt sich sehr niedergeschlagen und empfindet leichte convulsivische Bewe- gungen in den Gliedern. Während der Anfälle bewahrt er die Empfindung seiner eigenen Existenz; er weiss vollständig, dass, indem er einen Mord begeht, er sich eines Verbrechens schuldig macht. Hat man ihn ausser Stand gesetzt zu schaden, so verzerrt er sein Gesicht, singt, spricht in Versen. Der Anfall dauert einen bis zwei Tage; endet er, so ruft er aus: "Bindet mich los! Ach, ich habe sehr gelitten, aber ich bin glücklich durchgekommen, da ich Niemanden getödtet habe." (Esquirol von Bernhard. II. p. 371.)
§. 114.
Die von den Schriftstellern aufgeführten verschiedenen Arten der Tobsucht näher zu beschreiben, wäre von keinem besonderen Interesse. Sie sind, wie wir zum Theil schon oben erwähnten, theils nach den verschiedenen Trieben und Neigungen, welche sich in exal- tirter Weise äussern (Nymphomanie, Mania saltans, Furor poeticus etc.), theils nach verschiedenen Anlässen und Ursachen der Krankheit (Mania puerperalis, parturientium, potatorum etc.) aufgestellt. Was nament- lich die letztere Form, das Delirium tremens, betrifft, so besteht es in allen ausgebildeten Fällen aus einem gewöhnlich mässigeren Grade von Tobsucht, dem gleichfalls fast immer ein kurzes Stadium melancholicum vorausgeht und wobei Zittern der Extremitäten, an- haltende Schlaflosigkeit, und copiose Schweisse gewöhnlich zugleich vorhanden sind. Ein Zustand von Angst dauert häufig während der ganzen tobsüchtigen Periode fort und unterhält die Aufregung; sehr gewöhnlich sind dabei Hallucinationen des Gesichtssinns der verschie- densten Art, namentlich häufig bestehen sie in Phantasmen von Thier- gestalten, Mäusen, Pferden, Vögeln etc.; doch bewegt sich das Delirium auch in vielfältigen anderen Illusionen und Phantasmen von vorherrschend traurigem, ängstlichem Inhalt.
Von grosser practischer Wichtigkeit sind die häufigen Zustände unvollständig ausgebildeter Tobsucht, welche zwar in der Mehr- zahl der Fälle nur ein dieser letzteren oder dem Wahnsinne voraus- gehendes erstes Exaltationsstadium darstellen, zuweilen aber ohne weitere Entwicklung stehen bleiben und dann mit Recht als eine besondere Form des Irreseins mit dem Character der Exaltation angesehen werden. Wir haben ihrer zum Theil schon oben er- wähnt als der verhältnissmässig milden Aeusserungsweise bestimmter Neigungen und Triebe, während der Kranke noch keine auffallende
Modificationen der Tobsucht.
zärtlich liebt, würden in diesen Anfällen die ersten Opfer seiner Mordsucht sein. „Meine Mutter,“ ruft er mit einer schrecklichen Stimme, „rette dich, oder ich bringe dich um!“
Vor dem Anfalle klagt er über grosse Müdigkeit, kann jedoch nicht schlafen; er fühlt sich sehr niedergeschlagen und empfindet leichte convulsivische Bewe- gungen in den Gliedern. Während der Anfälle bewahrt er die Empfindung seiner eigenen Existenz; er weiss vollständig, dass, indem er einen Mord begeht, er sich eines Verbrechens schuldig macht. Hat man ihn ausser Stand gesetzt zu schaden, so verzerrt er sein Gesicht, singt, spricht in Versen. Der Anfall dauert einen bis zwei Tage; endet er, so ruft er aus: „Bindet mich los! Ach, ich habe sehr gelitten, aber ich bin glücklich durchgekommen, da ich Niemanden getödtet habe.“ (Esquirol von Bernhard. II. p. 371.)
§. 114.
Die von den Schriftstellern aufgeführten verschiedenen Arten der Tobsucht näher zu beschreiben, wäre von keinem besonderen Interesse. Sie sind, wie wir zum Theil schon oben erwähnten, theils nach den verschiedenen Trieben und Neigungen, welche sich in exal- tirter Weise äussern (Nymphomanie, Mania saltans, Furor poëticus etc.), theils nach verschiedenen Anlässen und Ursachen der Krankheit (Mania puerperalis, parturientium, potatorum etc.) aufgestellt. Was nament- lich die letztere Form, das Delirium tremens, betrifft, so besteht es in allen ausgebildeten Fällen aus einem gewöhnlich mässigeren Grade von Tobsucht, dem gleichfalls fast immer ein kurzes Stadium melancholicum vorausgeht und wobei Zittern der Extremitäten, an- haltende Schlaflosigkeit, und copiose Schweisse gewöhnlich zugleich vorhanden sind. Ein Zustand von Angst dauert häufig während der ganzen tobsüchtigen Periode fort und unterhält die Aufregung; sehr gewöhnlich sind dabei Hallucinationen des Gesichtssinns der verschie- densten Art, namentlich häufig bestehen sie in Phantasmen von Thier- gestalten, Mäusen, Pferden, Vögeln etc.; doch bewegt sich das Delirium auch in vielfältigen anderen Illusionen und Phantasmen von vorherrschend traurigem, ängstlichem Inhalt.
Von grosser practischer Wichtigkeit sind die häufigen Zustände unvollständig ausgebildeter Tobsucht, welche zwar in der Mehr- zahl der Fälle nur ein dieser letzteren oder dem Wahnsinne voraus- gehendes erstes Exaltationsstadium darstellen, zuweilen aber ohne weitere Entwicklung stehen bleiben und dann mit Recht als eine besondere Form des Irreseins mit dem Character der Exaltation angesehen werden. Wir haben ihrer zum Theil schon oben er- wähnt als der verhältnissmässig milden Aeusserungsweise bestimmter Neigungen und Triebe, während der Kranke noch keine auffallende
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Modificationen der Tobsucht.
zärtlich liebt, würden in diesen Anfällen die ersten Opfer seiner Mordsucht sein.
„Meine Mutter,“ ruft er mit einer schrecklichen Stimme, „rette dich, oder ich
bringe dich um!“
Vor dem Anfalle klagt er über grosse Müdigkeit, kann jedoch nicht schlafen;
er fühlt sich sehr niedergeschlagen und empfindet leichte convulsivische Bewe-
gungen in den Gliedern. Während der Anfälle bewahrt er die Empfindung seiner
eigenen Existenz; er weiss vollständig, dass, indem er einen Mord begeht, er
sich eines Verbrechens schuldig macht. Hat man ihn ausser Stand gesetzt zu
schaden, so verzerrt er sein Gesicht, singt, spricht in Versen. Der Anfall
dauert einen bis zwei Tage; endet er, so ruft er aus: „Bindet mich los! Ach,
ich habe sehr gelitten, aber ich bin glücklich durchgekommen, da ich Niemanden
getödtet habe.“ (Esquirol von Bernhard. II. p. 371.)
§. 114.
Die von den Schriftstellern aufgeführten verschiedenen Arten
der Tobsucht näher zu beschreiben, wäre von keinem besonderen
Interesse. Sie sind, wie wir zum Theil schon oben erwähnten, theils
nach den verschiedenen Trieben und Neigungen, welche sich in exal-
tirter Weise äussern (Nymphomanie, Mania saltans, Furor poëticus etc.),
theils nach verschiedenen Anlässen und Ursachen der Krankheit (Mania
puerperalis, parturientium, potatorum etc.) aufgestellt. Was nament-
lich die letztere Form, das Delirium tremens, betrifft, so besteht
es in allen ausgebildeten Fällen aus einem gewöhnlich mässigeren
Grade von Tobsucht, dem gleichfalls fast immer ein kurzes Stadium
melancholicum vorausgeht und wobei Zittern der Extremitäten, an-
haltende Schlaflosigkeit, und copiose Schweisse gewöhnlich zugleich
vorhanden sind. Ein Zustand von Angst dauert häufig während der
ganzen tobsüchtigen Periode fort und unterhält die Aufregung; sehr
gewöhnlich sind dabei Hallucinationen des Gesichtssinns der verschie-
densten Art, namentlich häufig bestehen sie in Phantasmen von Thier-
gestalten, Mäusen, Pferden, Vögeln etc.; doch bewegt sich das
Delirium auch in vielfältigen anderen Illusionen und Phantasmen von
vorherrschend traurigem, ängstlichem Inhalt.
Von grosser practischer Wichtigkeit sind die häufigen Zustände
unvollständig ausgebildeter Tobsucht, welche zwar in der Mehr-
zahl der Fälle nur ein dieser letzteren oder dem Wahnsinne voraus-
gehendes erstes Exaltationsstadium darstellen, zuweilen aber ohne
weitere Entwicklung stehen bleiben und dann mit Recht als eine
besondere Form des Irreseins mit dem Character der Exaltation
angesehen werden. Wir haben ihrer zum Theil schon oben er-
wähnt als der verhältnissmässig milden Aeusserungsweise bestimmter
Neigungen und Triebe, während der Kranke noch keine auffallende
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/247>, abgerufen am 25.04.2024.
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