Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Die psychischen Schwächezustände.

"Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt
in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging,
auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht
glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen
werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier
haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich,
dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame **
überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts
und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht
verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme,
mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein
Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher
erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. -- Dessen-
ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte
diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen
ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so
willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine
Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter-
werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters
mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine
Person geschmiedet werden könnte. etc."

Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen
Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische
Läugnen seinen Interessen dienlich.

(Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.)


Dritter Abschnitt.
Die psychischen Schwächezustände.
§. 120.

Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen-
zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch
zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie
sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden
Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden,
dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen,
wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch,
dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer-
muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär
das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der
Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden

Die psychischen Schwächezustände.

„Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt
in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging,
auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht
glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen
werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier
haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich,
dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame **
überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts
und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht
verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme,
mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein
Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher
erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. — Dessen-
ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte
diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen
ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so
willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine
Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter-
werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters
mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine
Person geschmiedet werden könnte. etc.“

Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen
Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische
Läugnen seinen Interessen dienlich.

(Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.)


Dritter Abschnitt.
Die psychischen Schwächezustände.
§. 120.

Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen-
zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch
zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie
sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden
Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden,
dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen,
wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch,
dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer-
muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär
das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der
Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0267" n="253"/>
              <fw place="top" type="header">Die psychischen Schwächezustände.</fw><lb/>
              <p>&#x201E;Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt<lb/>
in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging,<lb/>
auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht<lb/>
glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen<lb/>
werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier<lb/>
haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich,<lb/>
dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame **<lb/>
überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts<lb/>
und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht<lb/>
verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme,<lb/>
mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein<lb/>
Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher<lb/>
erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. &#x2014; Dessen-<lb/>
ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte<lb/>
diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen<lb/>
ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so<lb/>
willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine<lb/>
Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter-<lb/>
werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters<lb/>
mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine<lb/>
Person geschmiedet werden könnte. etc.&#x201C;</p><lb/>
              <p>Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen<lb/>
Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische<lb/>
Läugnen seinen Interessen dienlich.</p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">(Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.)</hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b">Dritter Abschnitt.</hi><lb/><hi rendition="#i">Die psychischen Schwächezustände</hi>.</head><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 120.</head><lb/>
            <p>Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen-<lb/>
zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch<lb/>
zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie<lb/>
sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden<lb/>
Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden,<lb/>
dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen,<lb/>
wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch,<lb/>
dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer-<lb/>
muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär<lb/>
das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der<lb/>
Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0267] Die psychischen Schwächezustände. „Wie sehr musste es mich daher befremden, dass der Stallmeister, anstatt in den Wagen zu steigen, in Begleitung des Officiers gerade auf mich zuging, auf mich, der ich ganz allein und weit entfernt mich befand! Ich konnte nicht glauben, dass er mir auf öffentlicher Strasse einen hinterlistigen Streich spielen werde, und dennoch that er es; er trat auf mich zu, in der Hand ein Papier haltend, welches einem noch versiegelten Briefe glich, und beschuldigte mich, dasselbe so eben inmitten der den Wagen umringenden Menge der Madame ** überreicht zu haben, mit dem Hinzufügen, dass der Brief beleidigenden Inhalts und von meiner Hand unterzeichnet sei. Ich erwiderte ihm, dass ich nicht verstünde, was er mir sagte, dass ich den Herrn Officier zum Zeugen nähme, mich nicht in der Gruppe befunden zu haben, und dass ich demselben weder ein Papier noch einen Brief eingehändigt habe, welches dieser auch bestätigte. Daher erklärte ich ihm, dass ich ihn nur für einen Verläumder halten könne. — Dessen- ungeachtet forderte er den Officier auf, mich zu verhaften; letzterer verweigerte diess anfangs, und fügte sich erst seinem Ansinnen, nachdem zwischen ihnen ein Wortwechsel stattgefunden hatte. Ich glaubte nicht, mich gegen eine so willkührliche und scandalöse Verhaftung zur Wehre setzen zu dürfen, es für meine Pflicht haltend, mich im Vertrauen auf die Loyalität der Regierung zu unter- werfen, um so mehr, als die von jeher bekannte Loyalität meines Characters mir stets den Sieg über jedes Complott verschaffen muss, welches gegen meine Person geschmiedet werden könnte. etc.“ Diese Zuversichtlichkeit, sagt Marc, kann entweder aus einem wirklichen Vergessen der Anfälle von Irresein entspringen, oder er findet das systematische Läugnen seinen Interessen dienlich. (Marc, die Geisteskrankheiten etc. von Ideler. I. p. 23.) Dritter Abschnitt. Die psychischen Schwächezustände. §. 120. Wir begreifen unter diesem Capitel eine Reihe krankhafter Seelen- zustände, welche bei grossen Verschiedenheiten im Einzelnen, doch zusammen eine natürliche Gruppe bilden. Schon dadurch stehen sie sich alle sehr nahe, dass sie (mit wenigen, bald zu bezeichnenden Ausnahmen) kein primäres, sondern ein consecutives Irresein bilden, dass sie als Reste und Residuen der bisher betrachteten Formen, wenn diese nicht geheilt werden, zurückbleiben. Ferner dadurch, dass hier das psychische Grundleiden nicht mehr, wie in der Schwer- muth und Manie, in herrschenden Affecten beruht, welche secundär das richtige Vorstellen beeinträchtigen, sondern die Störungen der Intelligenz an sich selbst, bei zurückgetretenen oder ganz abwesenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/267
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/267>, abgerufen am 29.03.2024.