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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Krämpfe und Neuralgieen als Complicationen.
und Wärme, und das Gemüth vertrocknet. Die Physionomie und
der Habitus verändern sich, der Kranke bekommt dicke Lippen,
grobe Züge und einen hässlichen Gesichtssausdruck. Mit dem Seltener-
und Schwächerwerden der Anfälle kann auch wieder eine Erhebung
der psychischen Fähigkeiten eintreten; aber, bei der seltenen gründ-
lichen Heilung der Epilepsie, ist doch ein endlicher Verfall in Blöd-
sinn das traurige Schicksal einer grossen Menge dieser Kranken.

Das Vorhandensein dieser intermittirenden Krampfformen bei
Geisteskranken ist denn auch von hauptsächlicher Wichtigkeit für die
Prognose. Epileptisch-blödsinnige sind als ganz unheilbar, die andern
Formen des Irreseins mit Epilepsie complicirt, als nur in den seltensten
Ausnahmsfällen heilbar zu betrachten. Einzelne, ausschliesslich für
heilbare Fälle bestimmte Irrenanstalten schliessen desshalb auch alle
mit Epilepsie behaftete Geisteskranke von der Aufnahme aus.

§. 134.

Noch manche andere krankhafte Erscheinungen im mo-
torischen Nervensysteme
können das Irresein compliciren. Bald
vorübergehend verbreitete convulsivische Zustände, ähnlich dem
hysterischen Anfall oder hervorgehend aus heftiger Kopfcongestion
oder acuter Meningitis; bald chronischer verlaufende allgemeinere
Krampfformen, choreaartige Bewegungen, Drehen, Rückwärts- oder
im Kreise Gehen u. dgl.; bald clonische Krämpfe, auf einzelne Mus-
kelgruppen beschränkt, z. B. beständiges krampfhaftes Kopfnicken oder
ein convulsivisches Lüpfen der Beine beim Gehen etc.; bald Con-
tracturen mit oder ohne darauf folgende Lähmung einzelner Muskel-
parthieen, namentlich der Extremitäten, Strabismus etc. -- Es ist
von ihnen mit Erwähnung ihrer übeln prognostischen Bedeutung schon
p. 86 gehandelt worden.

Eine ähnliche, schlimme Bedeutung scheinen die bisher viel zu
wenig beachteten, vagen Neuralgieen zu haben, die man, als
herumziehende Schmerzen in allen Theilen des Organismus, durchaus
nicht selten beim Uebergang der Krankheit in einen unheilbaren
Schwächezustand beobachtet. Eben ihre Häufigkeit unter diesen Um-
ständen veranlasst uns, sie für centralen Ursprungs, für eng zusam-
menhängend mit dem Irresein, und namentlich mit den in diesem
Zeitraume gewöhnlich eintretenden, dauernden Texturerkrankungen
innerhalb der Schädelhöhle zu halten. Sie stehen oft jenen leichte-
ren Hautneuralgien, die zu dem Wahne des Electrisirtwerdens Anlass

Griesinger, psych. Krankhtn. 19

Krämpfe und Neuralgieen als Complicationen.
und Wärme, und das Gemüth vertrocknet. Die Physionomie und
der Habitus verändern sich, der Kranke bekommt dicke Lippen,
grobe Züge und einen hässlichen Gesichtssausdruck. Mit dem Seltener-
und Schwächerwerden der Anfälle kann auch wieder eine Erhebung
der psychischen Fähigkeiten eintreten; aber, bei der seltenen gründ-
lichen Heilung der Epilepsie, ist doch ein endlicher Verfall in Blöd-
sinn das traurige Schicksal einer grossen Menge dieser Kranken.

Das Vorhandensein dieser intermittirenden Krampfformen bei
Geisteskranken ist denn auch von hauptsächlicher Wichtigkeit für die
Prognose. Epileptisch-blödsinnige sind als ganz unheilbar, die andern
Formen des Irreseins mit Epilepsie complicirt, als nur in den seltensten
Ausnahmsfällen heilbar zu betrachten. Einzelne, ausschliesslich für
heilbare Fälle bestimmte Irrenanstalten schliessen desshalb auch alle
mit Epilepsie behaftete Geisteskranke von der Aufnahme aus.

§. 134.

Noch manche andere krankhafte Erscheinungen im mo-
torischen Nervensysteme
können das Irresein compliciren. Bald
vorübergehend verbreitete convulsivische Zustände, ähnlich dem
hysterischen Anfall oder hervorgehend aus heftiger Kopfcongestion
oder acuter Meningitis; bald chronischer verlaufende allgemeinere
Krampfformen, choreaartige Bewegungen, Drehen, Rückwärts- oder
im Kreise Gehen u. dgl.; bald clonische Krämpfe, auf einzelne Mus-
kelgruppen beschränkt, z. B. beständiges krampfhaftes Kopfnicken oder
ein convulsivisches Lüpfen der Beine beim Gehen etc.; bald Con-
tracturen mit oder ohne darauf folgende Lähmung einzelner Muskel-
parthieen, namentlich der Extremitäten, Strabismus etc. — Es ist
von ihnen mit Erwähnung ihrer übeln prognostischen Bedeutung schon
p. 86 gehandelt worden.

Eine ähnliche, schlimme Bedeutung scheinen die bisher viel zu
wenig beachteten, vagen Neuralgieen zu haben, die man, als
herumziehende Schmerzen in allen Theilen des Organismus, durchaus
nicht selten beim Uebergang der Krankheit in einen unheilbaren
Schwächezustand beobachtet. Eben ihre Häufigkeit unter diesen Um-
ständen veranlasst uns, sie für centralen Ursprungs, für eng zusam-
menhängend mit dem Irresein, und namentlich mit den in diesem
Zeitraume gewöhnlich eintretenden, dauernden Texturerkrankungen
innerhalb der Schädelhöhle zu halten. Sie stehen oft jenen leichte-
ren Hautneuralgien, die zu dem Wahne des Electrisirtwerdens Anlass

Griesinger, psych. Krankhtn. 19
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[289/0303] Krämpfe und Neuralgieen als Complicationen. und Wärme, und das Gemüth vertrocknet. Die Physionomie und der Habitus verändern sich, der Kranke bekommt dicke Lippen, grobe Züge und einen hässlichen Gesichtssausdruck. Mit dem Seltener- und Schwächerwerden der Anfälle kann auch wieder eine Erhebung der psychischen Fähigkeiten eintreten; aber, bei der seltenen gründ- lichen Heilung der Epilepsie, ist doch ein endlicher Verfall in Blöd- sinn das traurige Schicksal einer grossen Menge dieser Kranken. Das Vorhandensein dieser intermittirenden Krampfformen bei Geisteskranken ist denn auch von hauptsächlicher Wichtigkeit für die Prognose. Epileptisch-blödsinnige sind als ganz unheilbar, die andern Formen des Irreseins mit Epilepsie complicirt, als nur in den seltensten Ausnahmsfällen heilbar zu betrachten. Einzelne, ausschliesslich für heilbare Fälle bestimmte Irrenanstalten schliessen desshalb auch alle mit Epilepsie behaftete Geisteskranke von der Aufnahme aus. §. 134. Noch manche andere krankhafte Erscheinungen im mo- torischen Nervensysteme können das Irresein compliciren. Bald vorübergehend verbreitete convulsivische Zustände, ähnlich dem hysterischen Anfall oder hervorgehend aus heftiger Kopfcongestion oder acuter Meningitis; bald chronischer verlaufende allgemeinere Krampfformen, choreaartige Bewegungen, Drehen, Rückwärts- oder im Kreise Gehen u. dgl.; bald clonische Krämpfe, auf einzelne Mus- kelgruppen beschränkt, z. B. beständiges krampfhaftes Kopfnicken oder ein convulsivisches Lüpfen der Beine beim Gehen etc.; bald Con- tracturen mit oder ohne darauf folgende Lähmung einzelner Muskel- parthieen, namentlich der Extremitäten, Strabismus etc. — Es ist von ihnen mit Erwähnung ihrer übeln prognostischen Bedeutung schon p. 86 gehandelt worden. Eine ähnliche, schlimme Bedeutung scheinen die bisher viel zu wenig beachteten, vagen Neuralgieen zu haben, die man, als herumziehende Schmerzen in allen Theilen des Organismus, durchaus nicht selten beim Uebergang der Krankheit in einen unheilbaren Schwächezustand beobachtet. Eben ihre Häufigkeit unter diesen Um- ständen veranlasst uns, sie für centralen Ursprungs, für eng zusam- menhängend mit dem Irresein, und namentlich mit den in diesem Zeitraume gewöhnlich eintretenden, dauernden Texturerkrankungen innerhalb der Schädelhöhle zu halten. Sie stehen oft jenen leichte- ren Hautneuralgien, die zu dem Wahne des Electrisirtwerdens Anlass Griesinger, psych. Krankhtn. 19

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/303>, abgerufen am 19.04.2024.