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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Specifität der Alterationen.
sur les causes physiques etc. Par. 1826. p. 9), Chiarugi unter 100 Fällen
95, Parchappe in 160 Fällen uncomplicirter Geisteskrankheit 152mal (Traite
de la folie. Docum. necrosc. Par. 1841. p. 46. 141), Webster in 72 Fällen
(Med. Chir. Transact. Vol. XXVI. 1843. und Annal. med. psych. Mai 1844. p. 445)
jedesmal Läsionen in der Schädelhöhle. Lelut fand solche unter 20 Fällen
acuter Manie nur 3mal, in der Manie chronique und Demence simple in mehr
als der Hälfte der Fälle (Inductions sur la valeur des alterations de l'encephale.
Par. 1836. p. 63. 76.) -- Es ist von Interesse, hiemit die anatomische Statistik
für einen schweren Symptomencomplex vom Rückenmarke, für den Tetanus, zu
vergleichen. Wallis (de Tetano disquis, arithmeticae. Diss. Hal. 1837. p. 24)
fand bei einer Zusammenstellung von 38 Sectionen an Tetanus Gestorbener 14
mal Zeichen von Entzündung der Nervenheerde (mit Erweichung, Verhärtung,
Entfärbung); weitere 11 Fälle geben "Entzündung ohne Degeneration" (Hyperä-
mie); die 13 übrigen boten in den Centralorganen nichts Abnormes dar.

§. 137.

Man kann nach den neueren Untersuchungen als festgestellte
Thatsache betrachten, dass die Mehrzahl der Leichenöffnungen irrer
Personen anatomische Veränderungen in der Schädelhöhle nachweist.
Gibt es nun irgend eine specifische Läsion für das Irresein? --
Meint man darunter eine Läsion, welche überall, wo das Irresein
das Product anatomischer Veränderungen ist, auch jedesmal in glei-
cher Weise vorhanden sein müsse, so ist diese Frage nicht nur zu
verneinen, sondern als eine a priori sinnlose zu bezeichnen. Denn
schon das einfachste pathologische Raisonnement muss ergeben, dass
die so ausserordentlich verschiedenen pathologischen Seelenerschei-
nungen, die man unter den Formen der Schwermuth, des Blödsinns
etc. begreift, unmöglich immer eine und dieselbe Veränderung des
Organs zur Grundlage haben können. Noch nie hat man es auch
nur für möglich gehalten, dass in den Rückenmarkskrankheiten den
mannigfaltigen Symptomen gestörter Empfindung und Bewegung immer
eine und dieselbe anatomische Abweichung zu Grunde liege; es muss
eben so klar sein, dass die mannigfaltigen Anomalieen der Selbstem-
pfindung, des Denkens und Wollens auf sehr verschiedenen Läsionen
des betreffenden Organs nicht nur beruhen können, sondern beruhen
müssen. Stellt man dagegen die Frage nach der Specifität der ana-
tomischen Läsionen umgekehrt, fragt man, ob es nicht anatomische
Veränderungen gebe, mit deren Vorhandensein auch immer nothwendig
eine auffallende Störung der psychischen Thätigkeiten, eine Geistes-
krankheit gegeben sei, so ist diese Frage zu bejahen. Ja, es gibt
substantielle Erkrankungen des Gehirns, welche immer Irresein zum

Die Specifität der Alterationen.
sur les causes physiques etc. Par. 1826. p. 9), Chiarugi unter 100 Fällen
95, Parchappe in 160 Fällen uncomplicirter Geisteskrankheit 152mal (Traité
de la folie. Docum. nécrosc. Par. 1841. p. 46. 141), Webster in 72 Fällen
(Med. Chir. Transact. Vol. XXVI. 1843. und Annal. med. psych. Mai 1844. p. 445)
jedesmal Läsionen in der Schädelhöhle. Lélut fand solche unter 20 Fällen
acuter Manie nur 3mal, in der Manie chronique und Démence simple in mehr
als der Hälfte der Fälle (Inductions sur la valeur des altérations de l’encéphale.
Par. 1836. p. 63. 76.) — Es ist von Interesse, hiemit die anatomische Statistik
für einen schweren Symptomencomplex vom Rückenmarke, für den Tetanus, zu
vergleichen. Wallis (de Tetano disquis, arithmeticae. Diss. Hal. 1837. p. 24)
fand bei einer Zusammenstellung von 38 Sectionen an Tetanus Gestorbener 14
mal Zeichen von Entzündung der Nervenheerde (mit Erweichung, Verhärtung,
Entfärbung); weitere 11 Fälle geben „Entzündung ohne Degeneration“ (Hyperä-
mie); die 13 übrigen boten in den Centralorganen nichts Abnormes dar.

§. 137.

Man kann nach den neueren Untersuchungen als festgestellte
Thatsache betrachten, dass die Mehrzahl der Leichenöffnungen irrer
Personen anatomische Veränderungen in der Schädelhöhle nachweist.
Gibt es nun irgend eine specifische Läsion für das Irresein? —
Meint man darunter eine Läsion, welche überall, wo das Irresein
das Product anatomischer Veränderungen ist, auch jedesmal in glei-
cher Weise vorhanden sein müsse, so ist diese Frage nicht nur zu
verneinen, sondern als eine a priori sinnlose zu bezeichnen. Denn
schon das einfachste pathologische Raisonnement muss ergeben, dass
die so ausserordentlich verschiedenen pathologischen Seelenerschei-
nungen, die man unter den Formen der Schwermuth, des Blödsinns
etc. begreift, unmöglich immer eine und dieselbe Veränderung des
Organs zur Grundlage haben können. Noch nie hat man es auch
nur für möglich gehalten, dass in den Rückenmarkskrankheiten den
mannigfaltigen Symptomen gestörter Empfindung und Bewegung immer
eine und dieselbe anatomische Abweichung zu Grunde liege; es muss
eben so klar sein, dass die mannigfaltigen Anomalieen der Selbstem-
pfindung, des Denkens und Wollens auf sehr verschiedenen Läsionen
des betreffenden Organs nicht nur beruhen können, sondern beruhen
müssen. Stellt man dagegen die Frage nach der Specifität der ana-
tomischen Läsionen umgekehrt, fragt man, ob es nicht anatomische
Veränderungen gebe, mit deren Vorhandensein auch immer nothwendig
eine auffallende Störung der psychischen Thätigkeiten, eine Geistes-
krankheit gegeben sei, so ist diese Frage zu bejahen. Ja, es gibt
substantielle Erkrankungen des Gehirns, welche immer Irresein zum

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[295/0309] Die Specifität der Alterationen. sur les causes physiques etc. Par. 1826. p. 9), Chiarugi unter 100 Fällen 95, Parchappe in 160 Fällen uncomplicirter Geisteskrankheit 152mal (Traité de la folie. Docum. nécrosc. Par. 1841. p. 46. 141), Webster in 72 Fällen (Med. Chir. Transact. Vol. XXVI. 1843. und Annal. med. psych. Mai 1844. p. 445) jedesmal Läsionen in der Schädelhöhle. Lélut fand solche unter 20 Fällen acuter Manie nur 3mal, in der Manie chronique und Démence simple in mehr als der Hälfte der Fälle (Inductions sur la valeur des altérations de l’encéphale. Par. 1836. p. 63. 76.) — Es ist von Interesse, hiemit die anatomische Statistik für einen schweren Symptomencomplex vom Rückenmarke, für den Tetanus, zu vergleichen. Wallis (de Tetano disquis, arithmeticae. Diss. Hal. 1837. p. 24) fand bei einer Zusammenstellung von 38 Sectionen an Tetanus Gestorbener 14 mal Zeichen von Entzündung der Nervenheerde (mit Erweichung, Verhärtung, Entfärbung); weitere 11 Fälle geben „Entzündung ohne Degeneration“ (Hyperä- mie); die 13 übrigen boten in den Centralorganen nichts Abnormes dar. §. 137. Man kann nach den neueren Untersuchungen als festgestellte Thatsache betrachten, dass die Mehrzahl der Leichenöffnungen irrer Personen anatomische Veränderungen in der Schädelhöhle nachweist. Gibt es nun irgend eine specifische Läsion für das Irresein? — Meint man darunter eine Läsion, welche überall, wo das Irresein das Product anatomischer Veränderungen ist, auch jedesmal in glei- cher Weise vorhanden sein müsse, so ist diese Frage nicht nur zu verneinen, sondern als eine a priori sinnlose zu bezeichnen. Denn schon das einfachste pathologische Raisonnement muss ergeben, dass die so ausserordentlich verschiedenen pathologischen Seelenerschei- nungen, die man unter den Formen der Schwermuth, des Blödsinns etc. begreift, unmöglich immer eine und dieselbe Veränderung des Organs zur Grundlage haben können. Noch nie hat man es auch nur für möglich gehalten, dass in den Rückenmarkskrankheiten den mannigfaltigen Symptomen gestörter Empfindung und Bewegung immer eine und dieselbe anatomische Abweichung zu Grunde liege; es muss eben so klar sein, dass die mannigfaltigen Anomalieen der Selbstem- pfindung, des Denkens und Wollens auf sehr verschiedenen Läsionen des betreffenden Organs nicht nur beruhen können, sondern beruhen müssen. Stellt man dagegen die Frage nach der Specifität der ana- tomischen Läsionen umgekehrt, fragt man, ob es nicht anatomische Veränderungen gebe, mit deren Vorhandensein auch immer nothwendig eine auffallende Störung der psychischen Thätigkeiten, eine Geistes- krankheit gegeben sei, so ist diese Frage zu bejahen. Ja, es gibt substantielle Erkrankungen des Gehirns, welche immer Irresein zum

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/309>, abgerufen am 29.03.2024.