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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Prognose nach Dauer
Besserung und Verschlimmerung geschieht. Hier ist eines Theils
das Aufhören aller Störungen des körperlichen Befindens, namentlich
mit Fettwerden, andererseits sind alle permanenteren Bewegungs- und
Sensibilitäts-Anomalieen (Krämpfe, Pupillenerweiterung, Verlust des
Geruchs, Geschmacks, Kothfressen, fixes Sehen in die Sonne, hart-
näckige vage Gliederschmerzen) als entschieden ungünstige Zeichen
zu betrachten, während der Mangel an Wiederkehr gesunder Neigun-
gen, eines gesunden Triebs zur Beschäftigung, die ohne Gemüths-
exaltation andauernde Sucht zu phantastischer Uebertreibung u. dgl.,
das Beharren des Leidens von geistiger Seite anzeigen.

§. 154.

Die Krankheitsdauer ist nach übereinstimmenden Erfahrun-
gen für die Prognose wichtiger als bei irgend einem andern Leiden.
In dieser Beziehung kann wohl in einzelnen Zahlenangaben, im
Grundsatze aber selbst keine Differenz mehr stattfinden. Es genasen
z. B. in Winnenthal *) von den im ersten Halbjahr der Krankheit
Aufgenommenen 68, nach zweijähriger Dauer 18, nach 4- und mehr-
jähriger Dauer nur noch 11 Procent, in der Retreat **) in den ersten
3 Monaten 80, vom 3.--12. Monat 46 Procent; Jessen ***) heilte
von frischen, d. h. vor der Aufnahme in die Anstalt nicht länger
als ein Jahr bestandenen Fällen 66, von älteren Fällen 12 Procent;
Esquirol schätzt, dass nach 3jähriger Dauer nur noch 1/30 der Kranken
geheilt werde+). So müssen, wenn nicht innerhalb Jahresfrist ein
sichtbarer Schritt zur Besserung geschieht, die Hoffnungen auf voll-
ständige Genesung schon trübe werden, wenn es gleich nicht an
Beispielen fehlt, wo Irre nach 7, 10, ja nach 20jähriger Dauer
der Krankheit noch genasen, wie man dies zuweilen bei einzelnen
Kranken der Pflege-Anstalten beobachtet; namentlich beim weiblichen
Geschlecht darf vom Eintritt der climacterischen Periode manchmal
noch ein günstiger Einfluss erwartet werden ++).

Was die prognostischen Zeichen aus dem Krankheitsverlauf
und der Art der Gruppirung der Symptome betrifft, so ist eine aus-

*) Zeller, Bericht l. c. Tab. VII.
**) Julius l. c.
***) Jacobi und Nasse Zeitschrift I. p. 661.
+) Viele andere statistische Notizen -- worunter freilich manche höchst un-
zuverlässige -- S. bei Damerow, Irren-, Heil- und Pflege-Anstalten 1840. pag.
151 seqq.
++) Jessen l. c. p. 662.

Prognose nach Dauer
Besserung und Verschlimmerung geschieht. Hier ist eines Theils
das Aufhören aller Störungen des körperlichen Befindens, namentlich
mit Fettwerden, andererseits sind alle permanenteren Bewegungs- und
Sensibilitäts-Anomalieen (Krämpfe, Pupillenerweiterung, Verlust des
Geruchs, Geschmacks, Kothfressen, fixes Sehen in die Sonne, hart-
näckige vage Gliederschmerzen) als entschieden ungünstige Zeichen
zu betrachten, während der Mangel an Wiederkehr gesunder Neigun-
gen, eines gesunden Triebs zur Beschäftigung, die ohne Gemüths-
exaltation andauernde Sucht zu phantastischer Uebertreibung u. dgl.,
das Beharren des Leidens von geistiger Seite anzeigen.

§. 154.

Die Krankheitsdauer ist nach übereinstimmenden Erfahrun-
gen für die Prognose wichtiger als bei irgend einem andern Leiden.
In dieser Beziehung kann wohl in einzelnen Zahlenangaben, im
Grundsatze aber selbst keine Differenz mehr stattfinden. Es genasen
z. B. in Winnenthal *) von den im ersten Halbjahr der Krankheit
Aufgenommenen 68, nach zweijähriger Dauer 18, nach 4- und mehr-
jähriger Dauer nur noch 11 Procent, in der Retreat **) in den ersten
3 Monaten 80, vom 3.—12. Monat 46 Procent; Jessen ***) heilte
von frischen, d. h. vor der Aufnahme in die Anstalt nicht länger
als ein Jahr bestandenen Fällen 66, von älteren Fällen 12 Procent;
Esquirol schätzt, dass nach 3jähriger Dauer nur noch 1/30 der Kranken
geheilt werde†). So müssen, wenn nicht innerhalb Jahresfrist ein
sichtbarer Schritt zur Besserung geschieht, die Hoffnungen auf voll-
ständige Genesung schon trübe werden, wenn es gleich nicht an
Beispielen fehlt, wo Irre nach 7, 10, ja nach 20jähriger Dauer
der Krankheit noch genasen, wie man dies zuweilen bei einzelnen
Kranken der Pflege-Anstalten beobachtet; namentlich beim weiblichen
Geschlecht darf vom Eintritt der climacterischen Periode manchmal
noch ein günstiger Einfluss erwartet werden ††).

Was die prognostischen Zeichen aus dem Krankheitsverlauf
und der Art der Gruppirung der Symptome betrifft, so ist eine aus-

*) Zeller, Bericht l. c. Tab. VII.
**) Julius l. c.
***) Jacobi und Nasse Zeitschrift I. p. 661.
†) Viele andere statistische Notizen — worunter freilich manche höchst un-
zuverlässige — S. bei Damerow, Irren-, Heil- und Pflege-Anstalten 1840. pag.
151 seqq.
††) Jessen l. c. p. 662.
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[334/0348] Prognose nach Dauer Besserung und Verschlimmerung geschieht. Hier ist eines Theils das Aufhören aller Störungen des körperlichen Befindens, namentlich mit Fettwerden, andererseits sind alle permanenteren Bewegungs- und Sensibilitäts-Anomalieen (Krämpfe, Pupillenerweiterung, Verlust des Geruchs, Geschmacks, Kothfressen, fixes Sehen in die Sonne, hart- näckige vage Gliederschmerzen) als entschieden ungünstige Zeichen zu betrachten, während der Mangel an Wiederkehr gesunder Neigun- gen, eines gesunden Triebs zur Beschäftigung, die ohne Gemüths- exaltation andauernde Sucht zu phantastischer Uebertreibung u. dgl., das Beharren des Leidens von geistiger Seite anzeigen. §. 154. Die Krankheitsdauer ist nach übereinstimmenden Erfahrun- gen für die Prognose wichtiger als bei irgend einem andern Leiden. In dieser Beziehung kann wohl in einzelnen Zahlenangaben, im Grundsatze aber selbst keine Differenz mehr stattfinden. Es genasen z. B. in Winnenthal *) von den im ersten Halbjahr der Krankheit Aufgenommenen 68, nach zweijähriger Dauer 18, nach 4- und mehr- jähriger Dauer nur noch 11 Procent, in der Retreat **) in den ersten 3 Monaten 80, vom 3.—12. Monat 46 Procent; Jessen ***) heilte von frischen, d. h. vor der Aufnahme in die Anstalt nicht länger als ein Jahr bestandenen Fällen 66, von älteren Fällen 12 Procent; Esquirol schätzt, dass nach 3jähriger Dauer nur noch 1/30 der Kranken geheilt werde †). So müssen, wenn nicht innerhalb Jahresfrist ein sichtbarer Schritt zur Besserung geschieht, die Hoffnungen auf voll- ständige Genesung schon trübe werden, wenn es gleich nicht an Beispielen fehlt, wo Irre nach 7, 10, ja nach 20jähriger Dauer der Krankheit noch genasen, wie man dies zuweilen bei einzelnen Kranken der Pflege-Anstalten beobachtet; namentlich beim weiblichen Geschlecht darf vom Eintritt der climacterischen Periode manchmal noch ein günstiger Einfluss erwartet werden ††). Was die prognostischen Zeichen aus dem Krankheitsverlauf und der Art der Gruppirung der Symptome betrifft, so ist eine aus- *) Zeller, Bericht l. c. Tab. VII. **) Julius l. c. ***) Jacobi und Nasse Zeitschrift I. p. 661. †) Viele andere statistische Notizen — worunter freilich manche höchst un- zuverlässige — S. bei Damerow, Irren-, Heil- und Pflege-Anstalten 1840. pag. 151 seqq. ††) Jessen l. c. p. 662.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/348>, abgerufen am 28.03.2024.