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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Blutentziehungen. Kälte.
Immer sind es nur Hyperämieen, welche damit gehoben werden
können; dass die wahren chronisch-meningitischen und encephaliti-
schen Processe so wenig als andere chronische Entzündungen durch
Blutentziehungen zu beseitigen sind, darüber wird man sich bei
einiger Einsicht in die hier stattfindenden Vorgänge nicht verwundern.
Schröpfköpfe können auf den geschorenen Kopf oder in Nacken, Blut-
egel sollen wo möglich in die Nähe von Emissarien applicirt werden,
hinter dem Ohr, an der Nasen-Schleimhaut, deren Venen mit dem
Längenblutleiter communiciren etc. Beim weiblichen Geschlecht kön-
nen Blutentziehungen an den Genitalien nöthig werden; die Blutent-
ziehungen am After gegen Kopfcongestionen sind ein unsicheres,
diese zuweilen steigerndes Mittel.

§. 168.

Zur Beseitigung der Gehirnhyperämie findet auch die Kälte
ausgedehnte und vortheilhafte Anwendung -- aber nicht in der Form
jener massenhaften kalten Sturzbäder, mit welchen die Practiker so
gerne frisch erkrankte Tobsüchtige zu beruhigen suchen, und die
doch so gewöhnlich nur die Aufregung steigern, und selbst die Kopf-
congestionen erhöhen. Zeller (und in neuerer Zeit Jacobi) haben
sich nachdrücklich über die Fruchtlosigkeit dieses Verfahrens geäussert;
wir selbst haben solche Fälle gesehen, wo die Sturzbäder mehrfach
mit jedesmal sichtlicher Verschlimmerung angewandt worden waren.
Nur im melancholischen Stumpfsinn dürften sie zuweilen mit Erfolg
gebraucht werden; die eigentliche Douche vollends mit anhaltendem,
heftig auffallendem Strahl ist kaum je als Kur-, sondern als ein blosses
Straf- und Zwangsmittel der psychischen Therapie anzuwenden. --
Nützlich dagegen ist die Application der Eismütze oder doch der
kalten Umschläge, welche die Kranken oft selbst eifrig wiederholen,
in vielen Exaltationszuständen mit heissem Kopf, klopfenden Hals-
arterien etc.; und besonders passend ist die Application der Kälte
auf den Kopf während allgemeiner lauer Bäder, entweder als Um-
schlag, oder als mildes Regenbad, als langsame Begiessung aus sehr
mässiger Höhe. Die grosse Ruhe in den nächsten Stunden nach
einem solchen Bade und die dem Kranken selbst oft auffallende
Erleichterung kann eine täglich mehrmalige Anwendung indiciren, mit
welcher man der Agitation, sobald sie sich wieder steigern will, jedes-
mal zuvorzukommen sucht. Insolation, Kopfverletzung, drohende Apo-
plexie machen die Anwendung der Kälte auf den Kopf besonders
dringlich. --

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Blutentziehungen. Kälte.
Immer sind es nur Hyperämieen, welche damit gehoben werden
können; dass die wahren chronisch-meningitischen und encephaliti-
schen Processe so wenig als andere chronische Entzündungen durch
Blutentziehungen zu beseitigen sind, darüber wird man sich bei
einiger Einsicht in die hier stattfindenden Vorgänge nicht verwundern.
Schröpfköpfe können auf den geschorenen Kopf oder in Nacken, Blut-
egel sollen wo möglich in die Nähe von Emissarien applicirt werden,
hinter dem Ohr, an der Nasen-Schleimhaut, deren Venen mit dem
Längenblutleiter communiciren etc. Beim weiblichen Geschlecht kön-
nen Blutentziehungen an den Genitalien nöthig werden; die Blutent-
ziehungen am After gegen Kopfcongestionen sind ein unsicheres,
diese zuweilen steigerndes Mittel.

§. 168.

Zur Beseitigung der Gehirnhyperämie findet auch die Kälte
ausgedehnte und vortheilhafte Anwendung — aber nicht in der Form
jener massenhaften kalten Sturzbäder, mit welchen die Practiker so
gerne frisch erkrankte Tobsüchtige zu beruhigen suchen, und die
doch so gewöhnlich nur die Aufregung steigern, und selbst die Kopf-
congestionen erhöhen. Zeller (und in neuerer Zeit Jacobi) haben
sich nachdrücklich über die Fruchtlosigkeit dieses Verfahrens geäussert;
wir selbst haben solche Fälle gesehen, wo die Sturzbäder mehrfach
mit jedesmal sichtlicher Verschlimmerung angewandt worden waren.
Nur im melancholischen Stumpfsinn dürften sie zuweilen mit Erfolg
gebraucht werden; die eigentliche Douche vollends mit anhaltendem,
heftig auffallendem Strahl ist kaum je als Kur-, sondern als ein blosses
Straf- und Zwangsmittel der psychischen Therapie anzuwenden. —
Nützlich dagegen ist die Application der Eismütze oder doch der
kalten Umschläge, welche die Kranken oft selbst eifrig wiederholen,
in vielen Exaltationszuständen mit heissem Kopf, klopfenden Hals-
arterien etc.; und besonders passend ist die Application der Kälte
auf den Kopf während allgemeiner lauer Bäder, entweder als Um-
schlag, oder als mildes Regenbad, als langsame Begiessung aus sehr
mässiger Höhe. Die grosse Ruhe in den nächsten Stunden nach
einem solchen Bade und die dem Kranken selbst oft auffallende
Erleichterung kann eine täglich mehrmalige Anwendung indiciren, mit
welcher man der Agitation, sobald sie sich wieder steigern will, jedes-
mal zuvorzukommen sucht. Insolation, Kopfverletzung, drohende Apo-
plexie machen die Anwendung der Kälte auf den Kopf besonders
dringlich. —

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[355/0369] Blutentziehungen. Kälte. Immer sind es nur Hyperämieen, welche damit gehoben werden können; dass die wahren chronisch-meningitischen und encephaliti- schen Processe so wenig als andere chronische Entzündungen durch Blutentziehungen zu beseitigen sind, darüber wird man sich bei einiger Einsicht in die hier stattfindenden Vorgänge nicht verwundern. Schröpfköpfe können auf den geschorenen Kopf oder in Nacken, Blut- egel sollen wo möglich in die Nähe von Emissarien applicirt werden, hinter dem Ohr, an der Nasen-Schleimhaut, deren Venen mit dem Längenblutleiter communiciren etc. Beim weiblichen Geschlecht kön- nen Blutentziehungen an den Genitalien nöthig werden; die Blutent- ziehungen am After gegen Kopfcongestionen sind ein unsicheres, diese zuweilen steigerndes Mittel. §. 168. Zur Beseitigung der Gehirnhyperämie findet auch die Kälte ausgedehnte und vortheilhafte Anwendung — aber nicht in der Form jener massenhaften kalten Sturzbäder, mit welchen die Practiker so gerne frisch erkrankte Tobsüchtige zu beruhigen suchen, und die doch so gewöhnlich nur die Aufregung steigern, und selbst die Kopf- congestionen erhöhen. Zeller (und in neuerer Zeit Jacobi) haben sich nachdrücklich über die Fruchtlosigkeit dieses Verfahrens geäussert; wir selbst haben solche Fälle gesehen, wo die Sturzbäder mehrfach mit jedesmal sichtlicher Verschlimmerung angewandt worden waren. Nur im melancholischen Stumpfsinn dürften sie zuweilen mit Erfolg gebraucht werden; die eigentliche Douche vollends mit anhaltendem, heftig auffallendem Strahl ist kaum je als Kur-, sondern als ein blosses Straf- und Zwangsmittel der psychischen Therapie anzuwenden. — Nützlich dagegen ist die Application der Eismütze oder doch der kalten Umschläge, welche die Kranken oft selbst eifrig wiederholen, in vielen Exaltationszuständen mit heissem Kopf, klopfenden Hals- arterien etc.; und besonders passend ist die Application der Kälte auf den Kopf während allgemeiner lauer Bäder, entweder als Um- schlag, oder als mildes Regenbad, als langsame Begiessung aus sehr mässiger Höhe. Die grosse Ruhe in den nächsten Stunden nach einem solchen Bade und die dem Kranken selbst oft auffallende Erleichterung kann eine täglich mehrmalige Anwendung indiciren, mit welcher man der Agitation, sobald sie sich wieder steigern will, jedes- mal zuvorzukommen sucht. Insolation, Kopfverletzung, drohende Apo- plexie machen die Anwendung der Kälte auf den Kopf besonders dringlich. — 23*

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/369>, abgerufen am 19.04.2024.