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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Zwangmittel.
§. 181.

Die äusseren Beschränkungsmittel haben den Zweck, den
Kranken vor Schaden, den er sich selbst oder Andern zufügen könnte,
zu bewahren, ihm das laute Rasen und Toben, überhaupt solche
Aeusserungen seiner irren Triebe, in welchen diese selbst wieder
neue Nahrung finden können, unmöglich zu machen und so seiner
Selbstbeherrschung zu Hülfe zu kommen. Sie dienen ausserdem
überhaupt dazu, ihm eine äussere Gewalt, gegen welche sein eige-
nes Thun unmächtig ist, fühlbar zu machen, seinen Willen zu beu-
gen und Starrsinn und Widersetzlichkeit zu brechen. Die Mittel,
deren man sich hiezu bedient, dürfen nicht nur Nichts das Ehrge-
fühl des Kranken Verletzendes, nichts Zuchthausartiges (wie Ketten
und Schläge), sie dürfen auch Nichts die Phantasie Schreckendes ha-
ben, wie jene mannigfaltigen Zwangsapparate und Maschinerieen, deren
man sich früher, zum Theil bis in die letzten Jahre noch bediente *).
Man kann in den meisten Fällen mit der Zwangsweste, einem leine-
nen Camisol, das dem Kranken keinen oder nur einen sehr beschränk-
ten Gebrauch der Arme und Hände gestattet, ausreichen; für einzelne
Fälle mögen noch der Zwangsstuhl, ein gepolsterter Lehnsessel, auf
welchem der Kranke befestigt wird, oder weiche Sprungriemen, welche
ihm das schnelle Gehen und Laufen unmöglich machen, auch einige
Gürtel, um ihn im Nothfalle im Bette zu befestigen, dienen.

Ohne Zweifel war es der Missbrauch, welcher bis vor Kurzem
mit der Anwendung körperlichen Zwangs bei Irren getrieben wurde,
wodurch in den letzten Jahren in England das entgegengesetze Ex-
trem, die totale Verbannung aller mechanischen Beschränkungsmittel
aus der Irrenbehandlung, hervorgerufen wurde. Dieses Verfahren,
als System des No-Restraint bekannt, zuerst (1838) in der Anstalt
von Lincoln, später in Northampton, in Hanwell, in Lancaster, Suf-
folk, Gloucester u. a. O. ein- und durchgeführt, wird von der
einen Seite eben so sehr gepriesen, als von der andern seine Vor-
theile in Frage gestellt werden. An die Spitze der Gründe dafür
wird die grössere Humanität dieses Verfahrens und die leichtere Beruhi-
gung des Kranken, der durch mechanischen Zwang oft stärker irritirt
werde, gestellt; es wird behauptet, dass der Kranke dadurch mehr an
eigene Selbstbeherrschung gewöhnt und in seiner Selbstachtung ge-
hoben werde, dass dabei eigenmächtige Gewaltthätigkeiten der Wärter

*) S. eine Sammlung derselben in Schneider's Heilmittellehre gegen psych.
Krkhtn. Tüb. 1824.
Zwangmittel.
§. 181.

Die äusseren Beschränkungsmittel haben den Zweck, den
Kranken vor Schaden, den er sich selbst oder Andern zufügen könnte,
zu bewahren, ihm das laute Rasen und Toben, überhaupt solche
Aeusserungen seiner irren Triebe, in welchen diese selbst wieder
neue Nahrung finden können, unmöglich zu machen und so seiner
Selbstbeherrschung zu Hülfe zu kommen. Sie dienen ausserdem
überhaupt dazu, ihm eine äussere Gewalt, gegen welche sein eige-
nes Thun unmächtig ist, fühlbar zu machen, seinen Willen zu beu-
gen und Starrsinn und Widersetzlichkeit zu brechen. Die Mittel,
deren man sich hiezu bedient, dürfen nicht nur Nichts das Ehrge-
fühl des Kranken Verletzendes, nichts Zuchthausartiges (wie Ketten
und Schläge), sie dürfen auch Nichts die Phantasie Schreckendes ha-
ben, wie jene mannigfaltigen Zwangsapparate und Maschinerieen, deren
man sich früher, zum Theil bis in die letzten Jahre noch bediente *).
Man kann in den meisten Fällen mit der Zwangsweste, einem leine-
nen Camisol, das dem Kranken keinen oder nur einen sehr beschränk-
ten Gebrauch der Arme und Hände gestattet, ausreichen; für einzelne
Fälle mögen noch der Zwangsstuhl, ein gepolsterter Lehnsessel, auf
welchem der Kranke befestigt wird, oder weiche Sprungriemen, welche
ihm das schnelle Gehen und Laufen unmöglich machen, auch einige
Gürtel, um ihn im Nothfalle im Bette zu befestigen, dienen.

Ohne Zweifel war es der Missbrauch, welcher bis vor Kurzem
mit der Anwendung körperlichen Zwangs bei Irren getrieben wurde,
wodurch in den letzten Jahren in England das entgegengesetze Ex-
trem, die totale Verbannung aller mechanischen Beschränkungsmittel
aus der Irrenbehandlung, hervorgerufen wurde. Dieses Verfahren,
als System des No-Restraint bekannt, zuerst (1838) in der Anstalt
von Lincoln, später in Northampton, in Hanwell, in Lancaster, Suf-
folk, Gloucester u. a. O. ein- und durchgeführt, wird von der
einen Seite eben so sehr gepriesen, als von der andern seine Vor-
theile in Frage gestellt werden. An die Spitze der Gründe dafür
wird die grössere Humanität dieses Verfahrens und die leichtere Beruhi-
gung des Kranken, der durch mechanischen Zwang oft stärker irritirt
werde, gestellt; es wird behauptet, dass der Kranke dadurch mehr an
eigene Selbstbeherrschung gewöhnt und in seiner Selbstachtung ge-
hoben werde, dass dabei eigenmächtige Gewaltthätigkeiten der Wärter

*) S. eine Sammlung derselben in Schneider’s Heilmittellehre gegen psych.
Krkhtn. Tüb. 1824.
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[372/0386] Zwangmittel. §. 181. Die äusseren Beschränkungsmittel haben den Zweck, den Kranken vor Schaden, den er sich selbst oder Andern zufügen könnte, zu bewahren, ihm das laute Rasen und Toben, überhaupt solche Aeusserungen seiner irren Triebe, in welchen diese selbst wieder neue Nahrung finden können, unmöglich zu machen und so seiner Selbstbeherrschung zu Hülfe zu kommen. Sie dienen ausserdem überhaupt dazu, ihm eine äussere Gewalt, gegen welche sein eige- nes Thun unmächtig ist, fühlbar zu machen, seinen Willen zu beu- gen und Starrsinn und Widersetzlichkeit zu brechen. Die Mittel, deren man sich hiezu bedient, dürfen nicht nur Nichts das Ehrge- fühl des Kranken Verletzendes, nichts Zuchthausartiges (wie Ketten und Schläge), sie dürfen auch Nichts die Phantasie Schreckendes ha- ben, wie jene mannigfaltigen Zwangsapparate und Maschinerieen, deren man sich früher, zum Theil bis in die letzten Jahre noch bediente *). Man kann in den meisten Fällen mit der Zwangsweste, einem leine- nen Camisol, das dem Kranken keinen oder nur einen sehr beschränk- ten Gebrauch der Arme und Hände gestattet, ausreichen; für einzelne Fälle mögen noch der Zwangsstuhl, ein gepolsterter Lehnsessel, auf welchem der Kranke befestigt wird, oder weiche Sprungriemen, welche ihm das schnelle Gehen und Laufen unmöglich machen, auch einige Gürtel, um ihn im Nothfalle im Bette zu befestigen, dienen. Ohne Zweifel war es der Missbrauch, welcher bis vor Kurzem mit der Anwendung körperlichen Zwangs bei Irren getrieben wurde, wodurch in den letzten Jahren in England das entgegengesetze Ex- trem, die totale Verbannung aller mechanischen Beschränkungsmittel aus der Irrenbehandlung, hervorgerufen wurde. Dieses Verfahren, als System des No-Restraint bekannt, zuerst (1838) in der Anstalt von Lincoln, später in Northampton, in Hanwell, in Lancaster, Suf- folk, Gloucester u. a. O. ein- und durchgeführt, wird von der einen Seite eben so sehr gepriesen, als von der andern seine Vor- theile in Frage gestellt werden. An die Spitze der Gründe dafür wird die grössere Humanität dieses Verfahrens und die leichtere Beruhi- gung des Kranken, der durch mechanischen Zwang oft stärker irritirt werde, gestellt; es wird behauptet, dass der Kranke dadurch mehr an eigene Selbstbeherrschung gewöhnt und in seiner Selbstachtung ge- hoben werde, dass dabei eigenmächtige Gewaltthätigkeiten der Wärter *) S. eine Sammlung derselben in Schneider’s Heilmittellehre gegen psych. Krkhtn. Tüb. 1824.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/386>, abgerufen am 28.03.2024.