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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Folgen der Affecte.
Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla-
genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc.

Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände
von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri-
mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei
Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen
Stimmungen und Affecten -- alle melancholischen Zustände; in der andern
besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten -- der Wahnsinn. -- Des Zorns
ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen
von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine
Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung
eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor-
stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und
das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen
Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift,
und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und
Wahnsinn.

§. 30.

Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie-
der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die-
sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi-
sche Processe
ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die
Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses,
der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor-
nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob
der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder
Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim
Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und
muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen
werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu-
stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom
Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem
Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald
wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und
bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden
sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik
aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende
machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir-
kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die
vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue
derartige Zustände setzen.

Folgen der Affecte.
Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla-
genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc.

Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände
von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri-
mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei
Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen
Stimmungen und Affecten — alle melancholischen Zustände; in der andern
besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten — der Wahnsinn. — Des Zorns
ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen
von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine
Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung
eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor-
stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und
das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen
Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift,
und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und
Wahnsinn.

§. 30.

Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie-
der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die-
sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi-
sche Processe
ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die
Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses,
der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor-
nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob
der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder
Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim
Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und
muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen
werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu-
stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom
Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem
Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald
wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und
bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden
sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik
aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende
machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir-
kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die
vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue
derartige Zustände setzen.

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[46/0060] Folgen der Affecte. Muth, Uebermuth etc.; zu diesen Aerger, üble Laune, Niedergeschla- genheit, Traurigkeit, Kummer, Schaam, Furcht, Schrecken etc. Diess Verhältniss gibt die Grundlage der Eintheilung für diejenigen Zustände von Irresein, welche in vorwaltendem Gemüthsleiden bestehen, also für die pri- mären Formen der Geisteskrankheiten (§. 26). Wir bekommen nämlich zwei Hauptclassen; in der einen besteht die Hauptstörung in depressiven, negativen Stimmungen und Affecten — alle melancholischen Zustände; in der andern besteht sie in expansiven, affirmativen Affecten — der Wahnsinn. — Des Zorns ist noch nicht Erwähnung gethan; er steht in der Mitte zwischen beiden Classen von Affecten; seinen Anlässen nach gehört er mehr zur ersten, indem er eine Beeinträchtigung des Ich voraussetzt, aber es folgt hier auf die Beeinträchtigung eine heftige Reaction des Ich, eine lebhafte Expansion und Explosion des Vor- stellens und Strebens, womit der negirte Eindruck meist wieder überwunden und das Gleichgewicht hergestellt wird. Dem Zorne aber stehen ihren psychologischen Grundlagen nach die Zustände sehr nahe, die man unter der Tobsucht begreift, und diese findet auch nosologisch ihre natürliche Stelle zwischen Melancholie und Wahnsinn. §. 30. Ein wichtiger Umstand bei den Affecten, der sie zugleich wie- der sehr vom ruhigen Vorstellen unterscheidet, ist der, dass in die- sen Zuständen immer ausser den cerebralen, noch andere organi- sche Processe ins Spiel gezogen werden. Der Herzschlag, die Respiration, die Magenverdauung, die Secretionen des Schweisses, der Galle, des Harnes werden in den Affecten verändert; dem Zor- nigen schwellen die Venen im Gesichte, es ist zuweilen, als ob der heftige Affect ihn ersticken wollte; bei dem in Furcht oder Schrecken Versetzten entstchen schnell wässrige Secretionen; beim Traurigen wird die Respiration verlangsamt und oberflächlich, und muss daher zuweilen durch tiefe Athemzüge, Seufzer, unterbrochen werden u. dergl. m. So setzen die Affecte (und affectartigen Zu- stände), ursprünglich durch Erregung des Körper-Nervensystems vom Gehirne aus, körperliche Anomalieen; bei schnell vorübergehendem Affect und bei vorher gesundem Organismus gleichen sich diese bald wieder aus; bei schon bestehender körperlicher Krankheit aber und bei lange fortdauernden Ursachen (z. B. anhaltendem Gram) bilden sich allmählig viel complicirtere Störungen der organischen Mechanik aus, denen das blosse Aufhören des Affects nicht alsbald ein Ende machen kann, und die Störungen können nun durch neue, rückwir- kende, secundäre Erregung des Gehirns von ihnen aus nicht nur die vorhandenen Affecte unterhalten und steigern, sondern auch neue derartige Zustände setzen.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/60>, abgerufen am 28.03.2024.