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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Elementarstörungen beim Irresein.
und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe-
ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne
alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer
neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss,
dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten
Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und
mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite-
ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück-
drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess
natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion
erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände
und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge-
nesung mehr vorhanden.


Vierter Abschnitt.
Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten.
§. 32.

Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe,
welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben,
sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein-
zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie,
der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge
zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy-
chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen,
nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive,
motorische
und geistige (Vorstellungs-) Anomalieen, so bekom-
men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu
betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein
Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung.

Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten
in allen diesen Zuständen (§ 5.); *) aber man möge die sensitiven und motorischen

*) Bei der Betrachtung der geistigen Anomalieen müssen wir uns auf Vieles
im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann.
Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der
Leser die §§. 15--31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent-
liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des
Irreseins finden.
Griesinger, psych. Krankhtn. 4

Die Elementarstörungen beim Irresein.
und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe-
ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne
alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer
neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss,
dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten
Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und
mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite-
ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück-
drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess
natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion
erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände
und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge-
nesung mehr vorhanden.


Vierter Abschnitt.
Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten.
§. 32.

Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe,
welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben,
sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein-
zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie,
der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge
zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy-
chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen,
nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive,
motorische
und geistige (Vorstellungs-) Anomalieen, so bekom-
men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu
betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein
Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung.

Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten
in allen diesen Zuständen (§ 5.); *) aber man möge die sensitiven und motorischen

*) Bei der Betrachtung der geistigen Anomalieen müssen wir uns auf Vieles
im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann.
Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der
Leser die §§. 15—31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent-
liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des
Irreseins finden.
Griesinger, psych. Krankhtn. 4
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[49/0063] Die Elementarstörungen beim Irresein. und verfälscht ist, wenn vollends die Vorstellungscomplexe des frühe- ren Ich so vollständig zurückgedrängt (vergessen) sind, dass ohne alle Spur von Affect, der Kranke seine ganze Persönlichkeit mit einer neuen vertauscht hat und von der alten kaum mehr etwas weiss, dann ist die Heilung so gut wie unmöglich, und nur in den seltensten Fällen gelingt es, durch Erregung heftiger Gemüthsbewegungen und mittelst ihrer durch eine Art mechanischer Dressur (Leuret, du traite- ment moral etc. Par. 1840) ein, immerhin schätzenswerthes Zurück- drängen der Aeusserung des Irreseins zu erhalten. Auch diess natürlich nur da, wo das Gehirn noch keine tiefere organische Läsion erlitten hat; wo solche vorhanden ist, wie in vielen dieser Zustände und namentlich im secundären Blödsinn, ist keine Hoffnung der Ge- nesung mehr vorhanden. Vierter Abschnitt. Die Elementarstörungen der psychischen Krankheiten. §. 32. Vor der Betrachtung der zusammengesetzten Symptomencomplexe, welche die speciellen Formen der psychischen Krankheiten geben, sind noch einige allgemeinere Verhältnisse, namentlich aber die ein- zelnen elementaren Störungen, die in jenen Formen (der Melancholie, der Manie etc.) sich verschieden gruppirt wiederholen, kurz ins Auge zu fassen. Und da in den Gehirnkrankheiten, die für uns als psy- chische Krankheiten in Betracht kommen, es, wie in allen übrigen, nur drei Reihen wesentlicher Anomalieen gibt, nämlich sensitive, motorische und geistige (Vorstellungs-) Anomalieen, so bekom- men wir nach diesen drei Gebieten drei grosse Haufen successiv zu betrachtender Elementarstörungen, ein Irresein im Vorstellen, ein Irresein der Sinnesempfindung und ein Irresein der Bewegung. Die geistigen Störungen sind allerdings die auffallendsten und bedeutendsten in allen diesen Zuständen (§ 5.); *) aber man möge die sensitiven und motorischen *) Bei der Betrachtung der geistigen Anomalieen müssen wir uns auf Vieles im vorigen Abschnitte Gesagtes beziehen, was hier nicht wiederholt werden kann. Bei einer desshalb mehr cursorischen Erwähnung einzelner Punkte möge der Leser die §§. 15—31. zu Hülfe nehmen; sehr Vieles aber kann seine eigent- liche Auseinandersetzung erst in der Schilderung der verschiedenen Formen des Irreseins finden. Griesinger, psych. Krankhtn. 4

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/63>, abgerufen am 29.03.2024.