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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Zweites Capitel.
Die sensitiven Elementarstörungen.
§. 42.

Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs-
Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich
das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr-
zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei-
sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren
oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen
schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel-
mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit
vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an
ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen
sich gerne auf ihren vortrefflichen -- krankhaft erhöhten -- Appetit,
um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. -- Diesen Mangel an
Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen,
zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me-
ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank-
heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort,
dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man
sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann
mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym-
ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und
Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon-
valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen.

Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem
Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver-
hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn-
lich intensiv
erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob-
jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er
delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So
bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits-
gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es
ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem
allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit
der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen
Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer-
den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir
in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,

Zweites Capitel.
Die sensitiven Elementarstörungen.
§. 42.

Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs-
Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich
das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr-
zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei-
sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren
oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen
schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel-
mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit
vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an
ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen
sich gerne auf ihren vortrefflichen — krankhaft erhöhten — Appetit,
um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. — Diesen Mangel an
Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen,
zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me-
ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank-
heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort,
dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man
sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann
mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym-
ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und
Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon-
valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen.

Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem
Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver-
hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn-
lich intensiv
erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob-
jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er
delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So
bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits-
gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es
ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem
allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit
der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen
Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer-
den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir
in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,

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[64/0078] Zweites Capitel. Die sensitiven Elementarstörungen. §. 42. Unter den für das Irresein so bedeutungsvollen Empfindungs- Anomalieen ist zuerst der verschiedenen Art zu gedenken, wie sich das allgemeine Krankheitsgefühl verhält. In der grossen Mehr- zahl der Fälle fehlt es bei den Geisteskranken vollständig, die mei- sten derselben wollen desshalb auch nicht krank sein und protestiren oft gegen eine ärztliche Behandlung. Ja, in nicht wenigen Fällen schwerer psychischer Erkrankung ist statt eines Krankheitsgefühls viel- mehr ein Gefühl erhöhten Wohlseins, erhöhter Körperkraft und Rüstigkeit vorhanden; solche Kranke (Maniaci) werden häufig bei jedem Zweifel an ihrer vollständigen Gesundheit ärgerlich und aufgebracht, und berufen sich gerne auf ihren vortrefflichen — krankhaft erhöhten — Appetit, um ihr vollständiges Wohlsein zu beweisen. — Diesen Mangel an Krankheitsgefühl beobachten wir bei einer Menge von Gehirnaffectionen, zuweilen nach Kopfverletzungen, ganz gewöhnlich in der acuten Me- ningitis und dem typhösen Gehirnleiden. Auf der Höhe der Krank- heit erhält man hier auf die betreffenden Fragen meist die Antwort, dass es ganz gut gehe, zuweilen sogar die Versicherung, dass man sich sehr täusche, das Individuum für krank zu halten, während dann mit dem Nachlass der Gefahr und allgemeiner Milderung der Sym- ptome ein starkes Krankheitsgefühl, die tiefste Abgeschlagenheit und Ermüdung sich einstellen. Solche pflegen denn auch in der Recon- valescenz aus jenen Formen des Irreseins nicht zu fehlen. Es gibt dagegen andere Zustände von Irresein, wo es an dem Krankheitsgefühle nicht nur nicht fehlt, sondern dasselbe, im Ver- hältnisse zu den objectiven Symptomen, vielmehr ganz ungewöhn- lich intensiv erscheint. Der Kranke wird dadurch über den ob- jectiven Thatbestand seines körperlichen Befindens getäuscht und er delirirt in falschen Vorstellungen schwerer eigener Erkrankung. So bildet ein unverhältnissmässig starkes oder anhaltendes Krankheits- gefühl eine der Grundlagen der hypochondrischen Zustände, und es ist für dieselben charakteristisch, dass es gewöhnlich nicht bei dem allgemeinen Eindrucke körperlichen Missbehagens bleibt, sondern mit der abwechselnden Richtung der Aufmerksamkeit auf die einzelnen Organe in jedem derselben unangenehme Empfindungen geweckt wer- den. Ganz denselben Zustand der nervösen Centralorgane finden wir in acuter Weise, in den Anfangsstadien der meisten schweren Fieber,

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/78>, abgerufen am 18.04.2024.