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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Hallucinationen und Illusionen.
lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife
der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses
erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem-
der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben.
Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin-
nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und
mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität
für alles Sinnliche *) übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende
Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um-
gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz-
lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb-
lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir
von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns
noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren
Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir,
als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin-
den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und
ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung
seiner Receptivität drängt.

Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver-
gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der
Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen.

§. 45.

Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei-
steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu-
sionen
, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man
subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden
und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen
nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu-
cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That
kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge-
sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke,
die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn
ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten
Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts
Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche
Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen.

*) "Warum doch glänzt um uns das All?
Jeglichem Staub sein Herz erschlossen!"

Hallucinationen und Illusionen.
lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife
der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses
erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem-
der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben.
Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin-
nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und
mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität
für alles Sinnliche *) übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende
Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um-
gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz-
lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb-
lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir
von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns
noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren
Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir,
als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin-
den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und
ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung
seiner Receptivität drängt.

Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver-
gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der
Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen.

§. 45.

Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei-
steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu-
sionen
, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man
subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden
und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen
nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu-
cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That
kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge-
sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke,
die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn
ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten
Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts
Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche
Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen.

*) „Warum doch glänzt um uns das All?
Jeglichem Staub sein Herz erschlossen!“
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[68/0082] Hallucinationen und Illusionen. lebendigen Zusammenhangs verknüpft uns mit ihr. Mit der Reife der Reflexion lockert sich dieses Band, die Wärme des Interesses erkaltet, die Dinge sehen uns anders an und wir verhalten uns frem- der zur Aussenwelt, wenn wir gleich sie besser kennen gelernt haben. Die Freude, überhaupt die expansiven Affecte, nähern uns der Sin- nenwelt wieder, Alles macht wieder einen lebhafteren Eindruck, und mit der schnellen, unmittelbaren Rückkehr der wärmsten Receptivität für alles Sinnliche *) übt so die Freude eine unmittelbar verjüngende Wirkung aus. In den schmerzlichen Affecten verhält es sich um- gekehrt; die Aussenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötz- lich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieb- lingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns noch mehr zur Entfremdung von den Aussendingen und zur inneren Vereinsamung bestimmt. Diesen letzteren Zuständen möchten wir, als ihnen nahe stehend, jene Klagen der Melancholischen analog fin- den, bei denen ihre Intensität, ihre psychische Unmotivirtheit und ihre Andauer den Kranken zu lauter Klage über solche Veränderung seiner Receptivität drängt. Mehre Beispiele dieser Zustände sind im Capitel von der Melancholie zu ver- gleichen. Sie haben in anderer Beziehung auch wieder ihre Analogie in der Mattigkeit der Sinneseindrücke beim Einschlafen. §. 45. Die allgemeinsten und wichtigsten sensitiven Anomalieen in gei- steskranken Zuständen sind aber die Hallucinationen und Illu- sionen, oder die Sinnesdelirien. Unter Hallucinationen versteht man subjective Sinnesbilder, welche aber nach aussen projicirt werden und dadurch scheinbare Objectivität und Realität bekommen; Illusionen nennt man falsche Deutungen äusserer Objecte. Es ist eine Hallu- cination, wenn ich menschliche Gestalten sehe, während in der That kein Mensch in der Nähe ist, oder eine Stimme höre, wo nicht ge- sprochen wurde; es ist eine Illusion, wenn ich eine glänzende Wolke, die eben am Himmel ist, für einen feurigen Wagen halte, oder wenn ich in einem Unbekannten, der in mein Zimmer tritt, einen alten Freund zu erblicken glaube. Den Hallucinationen entspricht gar nichts Aeusseres, sie sind falsche Empfindungen; die Illusionen sind falsche Urtheile, falsche Auslegungen eines peripherisch Empfundenen. *) „Warum doch glänzt um uns das All? Jeglichem Staub sein Herz erschlossen!“

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/82>, abgerufen am 28.03.2024.