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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Einfluss der Civilisation.
Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische,
politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die
Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste
ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der
Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft,
kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich-
tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths-
aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen
in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen --
man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche
Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt
es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der
Prostitution ergeben --, die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver-
änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an-
erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst
den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die
Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und
ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten,
nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die
Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren
Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren
oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von
dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht,
scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der
höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen
sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da-
für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet,
welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern
fremd sind -- die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne
grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie
namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei-
ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten
Ursachen der Geisteskrankheiten -- Esquirol und Prichard nehmen
für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an --
wesentlich vermindert wird.

Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren
mehr als verdreifacht habe *). In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die
Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die
Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat

*) Annal. med. psychol. Juillet. 1844. p. 156.

Einfluss der Civilisation.
Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische,
politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die
Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste
ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der
Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft,
kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich-
tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths-
aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen
in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen —
man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche
Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt
es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der
Prostitution ergeben —, die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver-
änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an-
erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst
den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die
Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und
ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten,
nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die
Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren
Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren
oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von
dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht,
scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der
höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen
sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da-
für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet,
welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern
fremd sind — die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne
grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie
namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei-
ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten
Ursachen der Geisteskrankheiten — Esquirol und Prichard nehmen
für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an —
wesentlich vermindert wird.

Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren
mehr als verdreifacht habe *). In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die
Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die
Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat

*) Annal. med. psychol. Juillet. 1844. p. 156.
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[105/0119] Einfluss der Civilisation. Ehrgeiz, den nur die Wenigsten befriedigen können; mercantilische, politische und sociale Schwindeleien wirken erschütternd auf die Einzelnen, wie auf das Ganze, und was von Allem das Wichtigste ist, das Proletariat, die Zunahme des Hungers, des Elends und der Verbrechen in den untersten Klassen der modernen Gesellschaft, kann nicht ohne Einfluss auf eine Krankheit sein, unter deren wich- tigsten näheren Ursachen wir Entbehrungen und anhaltende Gemüths- aufregungen kennen lernen werden. Die Anhäufung der Menschen in den grossen Städten mit all ihren demoralisirenden Einflüssen — man rechnet in Paris 63,000 Menschen, welche sich auf unehrliche Weise auf Kosten der Gesellschaft fortbringen, und in London gibt es Tausende von Kindern, die sich schon dem Verbrechen und der Prostitution ergeben —, die häufigere Ehelosigkeit, das vielfach ver- änderte Verhalten zur Religion mögen als mitwirkende Momente an- erkannt werden. Immer aber sind die Thatsachen, welche zu oberst den Vergleichungen zu Grunde gelegt werden müssten, nämlich die Seltenheit der Geisteskrankheiten in wenig civilisirten Ländern und ihre geringere Häufigkeit in unsern Gegenden zu früheren Zeiten, nicht genügend durch Zahlen constatirt, und der Antheil, den die Zunahme der Bevölkerung und die vermehrte, aus einer besseren Kenntniss hervorgehende Aufmerksamkeit auf das Irresein an der wahren oder scheinbaren Vermehrung der Geisteskranken hat, lässt sich nicht von dem jener complicirten Einflüsse, die man unter Civilisation versteht, scheiden. Mag aber auch bei einem Ueberschlage im Grossen der höheren Cultur unserer Tage hier ein schlimmer Einfluss zuzuerkennen sein, so hat die moderne Gesellschaft in den civilisirten Ländern da- für auch Mittel und Wege zur Wiedergenesung vom Irresein eröffnet, welche den früheren Jahrhunderten und den ungesitteten Ländern fremd sind — die Irrenanstalten, und die neueste Zeit zeigt einzelne grosse Massregeln moralischer Selbsthülfe von Seiten des Volks, wie namentlich die Mässigkeitsvereine, welche roheren Ländern und Zei- ten fehlen und mit denen ganz unzweifelhaft eine der allerhäufigsten Ursachen der Geisteskrankheiten — Esquirol und Prichard nehmen für die Hälfte der brittischen Irren Trunksucht als Ursache an — wesentlich vermindert wird. Man schätzt, dass sich die Zahl der Irren in England in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht habe *). In diesem Verhältnisse hat natürlich weder die Bevölkerung, noch viel weniger die Civilisation zugenommen, und da zudem die Zeiten verhältnissmässig ruhig waren, so lässt sich ein so auffallendes Resultat *) Annal. med. psychol. Juillet. 1844. p. 156.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/119>, abgerufen am 19.04.2024.