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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank-
heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon
§. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths-
bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations-, der Respirations-,
der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird
alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit
der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser
Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen
am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er-
worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig
geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die
Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen
eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus-
gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B.
nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen
Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter
wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden
anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden
Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung
anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt.
Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber
innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver-
schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit
Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich
fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni-
scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection
folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt,
abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt
wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili-
tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri-
sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge-
schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und
den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits-
anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz-
krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie
erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und
letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben.

Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra
auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge-
müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind,

Griesinger, psych. Krankhtn. 9

psychischen Ursachen.
Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank-
heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon
§. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths-
bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations-, der Respirations-,
der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird
alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit
der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser
Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen
am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er-
worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig
geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die
Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen
eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus-
gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B.
nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen
Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter
wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden
anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden
Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung
anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt.
Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber
innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver-
schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit
Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich
fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni-
scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection
folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt,
abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt
wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili-
tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri-
sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge-
schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und
den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits-
anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz-
krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie
erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und
letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben.

Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra
auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge-
müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind,

Griesinger, psych. Krankhtn. 9
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[129/0143] psychischen Ursachen. Processen zu Wege bringen, aus denen dann erst die Gehirnkrank- heit als ein secundäres Resultat hervorgeht. Man bedenke den schon §. 30. festgestellten Punkt, dass es eben im Wesen der Gemüths- bewegungen liegt, die Thätigkeiten der Circulations-, der Respirations-, der Verdauungsorgane in Mitleidenschaft zu ziehen und man wird alsbald erkennen, wie sich bei Fortdauer, bei grosser Heftigkeit der Verstimmungen und Affecte leicht bedeutendere Störungen dieser Functionen ergeben müssen, denen eben diejenigen Individuen am ehesten ausgesetzt sind, welche (vermöge angeborner oder er- worbener Disposition) zu Gemüthsbewegungen auf verhältnissmässig geringe Anlässe am geneigtesten sind. Sehr häufig nun entsteht die Gehirnkrankheit erst dann, wenn sich nach längeren Schwankungen eine anderweitige tiefere pathologische Veränderung allmählig aus- gebildet und consolidirt hat; wir sehen gar nicht selten, wie z. B. nach einem widrigen Ereigniss, das zunächst allerdings die cerebralen Processe in Unordnung brachte, der Mensch geistig wieder beruhigter wird, aber nun zu kränkeln, an verschiedenen andern Organen zu leiden anfängt, und nun erst nach Jahren, mit der immer zunehmenden Verschlechterung der ganzen Constitution, mit vollendeter Ausbildung anderweitiger chronischer Krankheiten, sich Seelenstörung einstellt. Besonders deutlich sind diese Wirkungen bei fortdauernden, aber innerlich verschlossenen psychischen Schmerzzuständen; jene ver- schluckten Thränen, jene inneren Wunden, die äusserlich lange mit Lächeln, mit Hochmuth und Lüge bedeckt geblieben sind, geben sich fast unfehlbar und meistens bald in der Ausbildung schwererer chroni- scher Krankheiten kund, denen dann erst secundär die Gehirnaffection folgt. Wir sehen, wie unter solchen Umständen der Mensch anfängt, abzumagern, wie die Verdauung schlecht, die Darmfunction geschwächt wird, wie sich Schlaflosigkeit, Palpitation, Hüsteln, allerlei Sensibili- tätsanomalieen, mässige Kopfcongestionen, ein mürrisches, hypochondri- sches Wesen einstellen; wir sehen namentlich beim weiblichen Ge- schlecht Menostasie oder Unregelmässigkeit der Periode, Neuralgieen und den Symptomencomplex der Hysterie auftreten; wir sehen, wie Krankheits- anlagen, die bisher geschlummert hatten, Tuberculose, chronische Herz- krankheiten und dergl. nun geweckt oder rasch gesteigert werden, und wie erst aus diesen pathologischen Mittelgliedern zwischen erster Ursache und letztem Resultat sich als solches endlich Geisteskrankheiten ergeben. Es erklären sich alle diese Verhältnisse aus dem Einflusse der Nerven-Centra auf die ganze Oeconomie, und es ist begreiflich, dass derartige Folgen der Ge- müthsbewegungen in den Lebens-Perioden am häufigsten und gefährlichsten sind, Griesinger, psych. Krankhtn. 9

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/143>, abgerufen am 29.03.2024.