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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Kopfverletzungen.
tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge
haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft
z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich
aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten.

Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren
Kopfverletzungen
, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra-
vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung
bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im
Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden
Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl.) erkennen lassen,
stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar
10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine,
liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge-
tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche
sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich
greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an-
dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst,
oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä-
mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber
lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent-
artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne
solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren
eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den
mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt.

Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der
Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene,
derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder
Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl.; *) zuweilen fällt es
nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen
des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum
Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als
Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden.

An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan-
denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren
Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün-
dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi**)

*) In gleicher Weise sieht man auch schwere Spinalneurosen zuweilen erst
längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti
traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift.) erzählt einen solchen Fall
von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf-
trat, übrigens geheilt wurde.
**) Die Hauptformen etc. p. 662.

Kopfverletzungen.
tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge
haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft
z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich
aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten.

Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren
Kopfverletzungen
, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra-
vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung
bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im
Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden
Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl.) erkennen lassen,
stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar
10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine,
liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge-
tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche
sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich
greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an-
dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst,
oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä-
mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber
lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent-
artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne
solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren
eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den
mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt.

Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der
Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene,
derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder
Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl.; *) zuweilen fällt es
nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen
des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum
Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als
Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden.

An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan-
denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren
Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün-
dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi**)

*) In gleicher Weise sieht man auch schwere Spinalneurosen zuweilen erst
längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti
traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift.) erzählt einen solchen Fall
von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf-
trat, übrigens geheilt wurde.
**) Die Hauptformen etc. p. 662.
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[136/0150] Kopfverletzungen. tionen, die das Gehirn durch ihre Anwesenheit erleidet, zur Folge haben; mitunter ist die geistige Störung eine sehr begrenzte, betrifft z. B. nur die Reproduction einzelner Vorstellungsreihen, kann sich aber von hier aus zu allgemeiner tieferer Geistesschwäche ausbreiten. Von grosser Wichtigkeit sind anerkanntermassen alle schweren Kopfverletzungen, mögen sie nun in Knochenbrüchen, Blutextra- vasaten, Verlust an Gehirnsubstanz etc., oder in blosser Erschütterung bestehen. Während die schwersten unter ihnen meistens schon im Beginn und mit der Erholung des Kranken ihre geisteszerrüttenden Folgen (Blödsinn, Blödsinn mit Manie und dergl.) erkennen lassen, stellen sich diese in andern Fällen oft erst viel später, 1, 2, 6, sogar 10 Jahre nach der Verletzung ein. Gewöhnlich mögen es hier kleine, liegengebliebene, in eingedicktem Zustand lange unschädlich ge- tragene Eiterheerde, oder kleine apoplectische Cysten, sein, um welche sich später, aus irgend einer Ursache, eine nun allmählig um sich greifende Entzündung der Häute oder der Gehirnsubstanz einstellt; an- dere male ist es die langsame Bildung einer Exostose, einer Geschwulst, oder eine schleichende Caries des Schädels, von der aus sich Hyperä- mieen und exsudative Processe weiter verbreiten. Zuweilen aber lässt sich auch nichts Solches wahrnehmen; ohne anatomische Ent- artungen scheinen einzelne Fälle von Erschütterung im Gehirne solche Folgen zurücklassen zu können, dass es noch nach Jahren eine leichte Erkrankungsfähigkeit behält, aus welcher dann nach den mässigsten weiteren (z. B. psychischen) Ursachen sich das Irresein ergibt. Es ist wenigstens durchaus nicht selten, dass man von den Angehörigen der Kranken bei näheren Nachfragen frühere, oft wieder in Vergessenheit gerathene, derartige Ereignisse erfährt, einen schweren Sturz vom Pferde, einen Fall oder Stoss an den Kopf, dem längere Betäubung folgte und dergl.; *) zuweilen fällt es nun erst der Umgebung auf, dass sich von dort an sogleich leise Veränderungen des Charakters an dem Kranken zeigten, leichte Aergerlichkeit, Neigung zum Zorn etc., die aber wenig beachtet wurden und in ihrer wahren Bedeutung, als Vorläufer eines Irreseins, kaum mit dessen Ausbruche anerkannt werden. An jene durch langsame Knochenkrankheit in Folge von Verletzung entstan- denen Fälle schliesst sich das Irresein durch Caries des Schädels aus inneren Ursachen, namentlich durch Caries des Felsenbeins, innere Ohrentzün- dung etc. an, welche sich eben am Ende auf die Meningen verbreitet. Jacobi **) *) In gleicher Weise sieht man auch schwere Spinalneurosen zuweilen erst längere Zeit nach der Beeinträchtigung auftreten. Jakubowsky (Choreae St. Viti traumaticae exemplum. Krak. 1838. Gratulationsschrift.) erzählt einen solchen Fall von Veitstanz, der mehre Monate nach einem Stoss auf die Rückengegend auf- trat, übrigens geheilt wurde. **) Die Hauptformen etc. p. 662.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/150>, abgerufen am 28.03.2024.