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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Eintheilung der Geisteskrankheiten.
jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen,
auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen,
bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich
aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren.

Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben
sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten
Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe
auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten
und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze
psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi-
cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen
des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem
Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein,
ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches
Denken
und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi-
scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass
die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der
ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe
vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus-
gänge
der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten.
Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren
Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan-
derfolge
der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt
sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver-
schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses
erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo-
gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann,
im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum
gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser --
von Zeller *) am deutlichsten ausgesprochenen -- Erkenntniss ist es uns
denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den,
immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch-
pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher
als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist
für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf
den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich
und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten,
anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So

*) 2ter Bericht etc. Med. Corresp. Blatt. Juli 1840.

Eintheilung der Geisteskrankheiten.
jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen,
auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen,
bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich
aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren.

Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben
sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten
Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe
auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten
und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze
psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi-
cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen
des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem
Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein,
ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches
Denken
und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi-
scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass
die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der
ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe
vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus-
gänge
der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten.
Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren
Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan-
derfolge
der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt
sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver-
schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses
erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo-
gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann,
im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum
gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser —
von Zeller *) am deutlichsten ausgesprochenen — Erkenntniss ist es uns
denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den,
immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch-
pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher
als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist
für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf
den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich
und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten,
anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So

*) 2ter Bericht etc. Med. Corresp. Blatt. Juli 1840.
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[151/0165] Eintheilung der Geisteskrankheiten. jenes Flüssige der (normalen und anomalen) psychischen Erscheinungen, auf welchem die Varietäten, Mittelzustände und Uebergänge beruhen, bildet den interessantesten Vorwurf clinischer Erörterung, lässt sich aber in den kurzen Expositionen eines Lehrbuchs nicht fixiren. Zwei grosse Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nemlich beruht dasselbe auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modifi- cationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht mehr) von dem Herrschen eines affectartigen Zustandes herrühren, sondern ein, ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches Denken und Wollen (meist mit dem herrschenden Character psychi- scher Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Aus- gänge der ersteren, bei nicht geheilter Gehirnkrankheit auftreten. Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe, bei einer grösseren Durchschnittsbetrachtung, wieder eine gewisse bestimmte Aufeinan- derfolge der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in dessen ver- schiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprozesses erkennt, welcher zwar durch die mannigfachsten intercurrirenden patholo- gischen Ereignisse modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann, im Ganzen aber einen stetig sucessiven Verlauf einhält, der bis zum gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann. Mittelst dieser — von Zeller *) am deutlichsten ausgesprochenen — Erkenntniss ist es uns denn möglich, von dem Wege der Symptomatologie her auch den, immer in den Vordergrund zu stellenden, Aufgaben der anatomisch- pathologischen Auffassung und Diagnostik der Geisteskrankheiten näher als bisher zu rücken. Denn auch die pathologische Anatomie weist für eine Mehrzahl von Fällen einen gewissen Krankheitsprocess (auf den Gehirnoberflächen) nach, der sich allmählig an und für sich und in seinen Producten fixirt und der am Ende zu den schwersten, anatomischen Alterationen der Gehirnsubstanz fortschreiten kann. So *) 2ter Bericht etc. Med. Corresp. Blatt. Juli 1840.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/165>, abgerufen am 23.04.2024.