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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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der Hypochondrie.
theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen
Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und
Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte)
Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung,
wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben
Eindrücke erregt -- machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus.

Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe
haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste
und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken
Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt:

"Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden
und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich
und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin-
dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden ... In allem, in den zärt-
lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie
mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses
grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi-
stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens
sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche
ihnen angehörte -- und die Freude, die ihnen folgt ... jeder meiner Sinne,
jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann
mir keine Empfindung mehr verschaffen
; die Unmöglichkeit scheint von
einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der
Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche;
denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen-
stände, die ich berühre . . . . ich fühle wohl die Veränderung der
Temperatur auf der Haut
, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath-
men habe ich nicht mehr . . . . Meine Augen sehen, mein Geist nimmt
es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor-
handen
etc."

Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens
ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth-
los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos.
"Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern,
aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle,
wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten
Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen,
ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint
mir unüberwindlich etc." Diess sind Aeusserungen, die man in den
höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der
Schwermuth häufig genug hören kann. *) Auch die Intelligenz

*) Vgl. ein ausgezeichnetes Beispiel bypochondrischer Willenlosigkeit, bei
Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.

der Hypochondrie.
theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen
Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und
Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte)
Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung,
wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben
Eindrücke erregt — machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus.

Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe
haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste
und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken
Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt:

„Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden
und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich
und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin-
dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden … In allem, in den zärt-
lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie
mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses
grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi-
stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens
sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche
ihnen angehörte — und die Freude, die ihnen folgt … jeder meiner Sinne,
jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann
mir keine Empfindung mehr verschaffen
; die Unmöglichkeit scheint von
einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der
Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche;
denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen-
stände, die ich berühre . . . . ich fühle wohl die Veränderung der
Temperatur auf der Haut
, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath-
men habe ich nicht mehr . . . . Meine Augen sehen, mein Geist nimmt
es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor-
handen
etc.“

Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens
ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth-
los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos.
„Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern,
aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle,
wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten
Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen,
ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint
mir unüberwindlich etc.“ Diess sind Aeusserungen, die man in den
höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der
Schwermuth häufig genug hören kann. *) Auch die Intelligenz

*) Vgl. ein ausgezeichnetes Beispiel bypochondrischer Willenlosigkeit, bei
Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.
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[157/0171] der Hypochondrie. theil an seinem Leiden nicht, und die Veränderung seiner ganzen Persönlichkeit, das Befangensein in den kranken Empfindungen und Vorstellungen, namentlich aber eine gewisse (§. 44. schon erwähnte) Anomalie, besonders im geistigen Antheil an der Sinnesempfindung, wobei diese, obwohl wie sonst percipirt, doch nicht mehr dieselben Eindrücke erregt — machen oft den Hauptgegenstand seiner Klage aus. Dieses letztere, sehr merkwürdige Verhalten, das die Kranken selbst Mühe haben zu beschreiben, das auch wir in mehren Fällen als das hervorstechendste und lästigste Symptom beobachtet haben, ist in folgendem Brief einer Kranken Esquirols, so gut es sein kann, ausgedrückt: „Noch immer leide ich beständig, und habe keine Minute von Wohlbefinden und keine menschliche Empfindung; umgeben von Allem, was das Leben glücklich und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfin- dung; beide sind physich unmöglich für mich geworden … In allem, in den zärt- lichsten Liebkosungen meiner Kinder, finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses grässliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Exi- stenz ist unvollständig, die Thätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nemlich die Empfindung, welche ihnen angehörte — und die Freude, die ihnen folgt … jeder meiner Sinne, jeder Theil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann mir keine Empfindung mehr verschaffen; die Unmöglichkeit scheint von einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche; denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegen- stände, die ich berühre . . . . ich fühle wohl die Veränderung der Temperatur auf der Haut, aber die innere Empfindung der Luft beim Ath- men habe ich nicht mehr . . . . Meine Augen sehen, mein Geist nimmt es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vor- handen etc.“ Auch die psychische Veränderung nach der Seite des Willens ist in den meisten Fällen auffallend genug; die Kranken werden muth- los, bedenklich, unentschlossen, in den höheren Graden völlig willenlos. „Ich möchte mich wohl entschliessen, ich möchte wohl ausdauern, aber es hängt nicht mehr von mir ab, es zu wollen; ich fühle, wenn ich wollen könnte, so könnte ich mich dieser verzweifelten Lage entziehen, aber ich muss mich meinen Wehgefühlen überlassen, ich fühle mich unfähig zu Allem, der kleinste Widerstand scheint mir unüberwindlich etc.“ Diess sind Aeusserungen, die man in den höheren Graden der Hypochondrie, wie in allen übrigen Formen der Schwermuth häufig genug hören kann. *) Auch die Intelligenz *) Vgl. ein ausgezeichnetes Beispiel bypochondrischer Willenlosigkeit, bei Leuret, Fragmens. p. 382 seqq.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/171>, abgerufen am 23.04.2024.