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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verstandes-Sinnes-Störungen.
Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen
und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und
Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich
immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe,
der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter
als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben,
so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei-
ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben
Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter-
thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das
Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit
Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der
Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne
grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen
beschäftigen mag.

Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr-
fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist
gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht;
das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe
er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als
Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen
auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor-
stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens
zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent-
lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand.

§. 96.

Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be-
gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten
Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder,
ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen
Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils
Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim
kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie).

Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und
Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz-
lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu
seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen;
er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei-
nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das

Verstandes-Sinnes-Störungen.
Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen
und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und
Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich
immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe,
der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter
als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben,
so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei-
ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben
Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter-
thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das
Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit
Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der
Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne
grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen
beschäftigen mag.

Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr-
fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist
gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht;
das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe
er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als
Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen
auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor-
stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens
zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent-
lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand.

§. 96.

Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be-
gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten
Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder,
ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen
Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils
Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim
kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie).

Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und
Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz-
lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu
seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen;
er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei-
nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das

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[171/0185] Verstandes-Sinnes-Störungen. Thier verwandelt sein. Wie der Wechsel der Lebens-Anschauungen und der Sitten überhaupt dem Irresein verschiedene Ausdrücke und Färbungen gibt, während die Empfindungsweisen an sich natürlich immer dieselben sind und die allgemeinen Beziehungen der Liebe, der Familien-Anhänglichkeit, der Freundschaft etc. für alle Zeitalter als gleich bedeutende Stoffe der Gemüthsinteressen bestehen bleiben, so hat auch das Delirium der Melancholischen zu verschiedenen Zei- ten verschiedene Ausdrücke gehabt. Es sind aber immer dieselben Grundstörungen der Selbstempfindung, ob der Schwermüthige im Alter- thume die Furcht äusserte, Atlas möchte, seiner Last müde, das Himmelsgewölbe herunter fallen lassen, ob er im Mittelalter mit Hexen, Gespenstern und Wehrwölfen zu thun hatte, ob er in der Gegenwart sich vor der Polizei fürchtet, oder sich mit dem Wahne grosser verunglückter Speculationen und beeinträchtigter Geldinteressen beschäftigen mag. Die Entstehungsweise dieser Delirien ist also die bereits mehr- fach erwähnte. Der Kranke fühlt seine traurige Verstimmung; er ist gewohnt, dass Traurigkeit nur auf widrige Anlässe in ihm entsteht; das Causalitätsgesetz heischt auch hier Grund und Ursache, und ehe er sich nach solchen ausdrücklich gefragt hat, tauchen schon als Antwort allerlei finstre Gedanken, trübe Ahnungen und Befürchtungen auf, über denen er so lange brütet und grübelt, bis einzelne Vor- stellungen stark und bleibend genug geworden sind, um sich, wenigstens zeitenweise zu fixiren. So haben diese Delirien wieder den wesent- lichen Character von Erklärungsversuchen für den eigenen Zustand. §. 96. Anomalieen der Sinnesempfindung und Bewegung be- gleiten häufig diese geistigen Störungen, theils die §. 43 erwähnten Empfindungen von Leerheit, Abgestorbensein des Kopfs, der Glieder, ja des ganzen Körpers, theils widrige Empfindungen auf der ganzen Hautoberfläche, die den Wahn des Electrisirtwerdens erregen, theils Hyperästhesie des Gesichts und Gehörs (Zittern, Zusammenfahren beim kleinsten Geräusche, vielleicht eine Grundlage der sog. Panphobie). Das eigentliche Irresein der Sinne, die Hallucinationen und Illusionen haben ganz den Character und das Gepräge der schmerz- lichen Gemüthsverstimmung. Der Kranke sieht die Zurüstungen zu seiner Hinrichtung, er hört die Gerichtsdiener, die ihn abholen wollen; er sieht sich von den Flammen der Hölle umgeben; Abgründe schei- nen sich vor seinen Füssen zu öffnen; Gespenster kommen, ihm das

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/185>, abgerufen am 25.04.2024.