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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Schwermuth mit Stumpfsinn.
der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane
vorhanden, wobei die Gesichts- und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich,
confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine
Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen
Parese der Empfindung.

Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von
Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren;
sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette
bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet
sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der
Schwermuth nicht eben selten.

Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei
solchen Kranken? -- Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen
hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der
psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle
das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch
die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung
entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist
ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver-
wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der
ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles
in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser,
des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl,
als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen-
heit etc. hervor.

Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög-
lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein-
dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum
er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant-
wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von
Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines
solchen Genesenen aufbewahrt: "Dieser Mangel an Activität kommt
daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen
Willen einen Einfluss auszuüben." -- Es zeigt sich aber die Willen-
losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit
und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende
Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise
wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein,
einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können.

Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,

Schwermuth mit Stumpfsinn.
der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane
vorhanden, wobei die Gesichts- und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich,
confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine
Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen
Parese der Empfindung.

Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von
Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren;
sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette
bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet
sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der
Schwermuth nicht eben selten.

Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei
solchen Kranken? — Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen
hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der
psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle
das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch
die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung
entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist
ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver-
wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der
ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles
in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser,
des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl,
als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen-
heit etc. hervor.

Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög-
lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein-
dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum
er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant-
wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von
Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines
solchen Genesenen aufbewahrt: „Dieser Mangel an Activität kommt
daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen
Willen einen Einfluss auszuüben.“ — Es zeigt sich aber die Willen-
losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit
und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende
Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise
wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein,
einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können.

Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,

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[187/0201] Schwermuth mit Stumpfsinn. der Hautoberfläche und ebenso ein Zustand der höheren Sinnorgane vorhanden, wobei die Gesichts- und Gehör-Eindrücke ganz undeutlich, confus, oft nur wie aus der Ferne percipirt werden; vielleicht eine Steigerung jener oben (§. 44. §. 92.) mehrfach erwähnten cerebralen Parese der Empfindung. Dabei haben die Kranken meistens ebenso das Bewusstsein von Zeit und Ort als das Gefühl ihrer körperlichen Bedürfnisse verloren; sie sind höchst unreinlich, man muss sie füttern, ankleiden, zu Bette bringen etc. Gewöhnlich magern sie dabei sehr ab, es bildet sich schnell Marasmus aus und der Tod ist in dieser Form der Schwermuth nicht eben selten. Wie verhält sich nun aber das innere psychische Leben bei solchen Kranken? — Die Genesenen geben in den exquisiten Fällen hierüber die merkwürdigsten Aufschlüsse. Weit entfernt von der psychischen Leerheit des Blödsinns hört in der Mehrzahl der Fälle das Vorstellen nicht auf, lebhaft thätig zu sein. Aber der durch die erwähnte Anomalie der Sinnesperception seiner realen Umgebung entrückte Kranke lebt in einer imaginären Welt. Die Wirklichkeit ist ihm untergegangen, wie vor ihm versunken, Alles um ihn her ist ver- wandelt. Eine schreckliche innere Angst ist der Grundzustand, der ihn zum Ersticken quält, und aus ihm gehen die Vorstellungen alles in jedem Augenblicke drohenden Unglücks, des Einstürzens der Häuser, des Untergangs der Welt, einer allgemeinen Vernichtung eben so wohl, als einzelne Wahnideen schwerster, eigener Verschuldung, Verworfen- heit etc. hervor. Der Kranke kann nicht wollen, und fühlt desshalb die Unmög- lichkeit, sich dem Schrecklichen, was von allen Seiten auf ihn ein- dringt, zu entziehen. Er kann später meistens nicht sagen, warum er zu dem geringsten Willensacte unfähig war, warum er nicht ant- wortete, nicht einmal schreien konnte; Esquirol (Geisteskrankheiten von Bernhard. II. p. 125) hat uns jedoch den merkwürdigen Ausspruch eines solchen Genesenen aufbewahrt: „Dieser Mangel an Activität kommt daher, weil meine Empfindungen zu schwach sind, um auf meinen Willen einen Einfluss auszuüben.“ — Es zeigt sich aber die Willen- losigkeit am deutlichsten in der vollständigen Passivität, Unthätigkeit und Unbeweglichkeit der Kranken, wiewohl auch hier intercurrirende Zustände grösserer Activität zuweilen vorkommen, in derselben Weise wie manche Kranke auch zwischendurch ein kurzes Bewusstsein, einen Schimmer der wirklichen Welt bekommen können. Meistens verbinden sich mit dieser äusseren Unempfindlichkeit,

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/201>, abgerufen am 29.03.2024.