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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Nähere Motive des Selbstmords bei Irren.
einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke
durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er,
indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und
Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor-
stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und
hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos
gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen
dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der
Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel-
leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die
tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst-
zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von
aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu-
kommen (Stimmen "tödte dich! tödte dich!" unmittelbare Befehle
Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen
bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige
Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der -- miss-
glückten -- Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission
ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen
und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung,
die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen
sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment,
um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss
auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham-
los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate
lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An-
wesenden zu befriedigen.

Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie,
kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener
auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn-
sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das
Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be-
treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter-
currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem
Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus
auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig-
verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl.), der
von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom
tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus-
sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst-

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Nähere Motive des Selbstmords bei Irren.
einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke
durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er,
indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und
Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor-
stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und
hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos
gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen
dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der
Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel-
leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die
tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst-
zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von
aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu-
kommen (Stimmen „tödte dich! tödte dich!“ unmittelbare Befehle
Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen
bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige
Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der — miss-
glückten — Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission
ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen
und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung,
die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen
sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment,
um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss
auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham-
los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate
lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An-
wesenden zu befriedigen.

Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie,
kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener
auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn-
sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das
Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be-
treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter-
currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem
Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus
auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig-
verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl.), der
von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom
tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus-
sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst-

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[195/0209] Nähere Motive des Selbstmords bei Irren. einer allgemeinen, unbestimmten Angstempfindung, dem der Kranke durch jedes Mittel zu entgehen strebt; ein anderesmal verfällt er, indem er die Veränderung aller seiner Gefühle ins Widrige und Schreckliche, seine Ueberwältigung von traurigen und argen Vor- stellungen fühlt, in Verzweiflung über eine solche Unterjochung und hält sich eines vermeintlich ganz schlecht, verworfen und ruchlos gewordenen Lebens für fernerhin unwerth. Oder es kommt zu jenen dunkeln Vorstellungen allgemeiner Nichtexistenz, Vernichtung der Welt und damit auch der Nothwendigkeit der Selhstvernichtung. Viel- leicht am häufigsten aber sind es Hallucinationen, in denen sich die tiefe Verstimmung und die noch dunkeln Vorstellungen der Selbst- zerstörung sinnlich projiciren und nun dem Kranken, scheinbar von aussen, mit der Stärke und Wahrheit objectiver Anschauungen zu- kommen (Stimmen „tödte dich! tödte dich!“ unmittelbare Befehle Gottes durch Gesichtshallucinationen etc.). Solche Antriebe kommen bei Melancholischen manchmal plötzlich und vorübergehend (einige Stunden, einige Tage dauernd) vor; mitunter tritt mit der — miss- glückten — Ausführung eine wesentliche Erleichterung und Remission ein, wie man in andern Fällen nach krankhaft motivirten Verletzungen und Unthaten an anderen Personen, die intensive Gefühlsbelästigung, die vorausging, aufhören und den Thäter sich vollständig beruhigen sieht. Einzelne Melancholische ergreifen listig den passenden Moment, um ihren längst feststehenden, aber wohl verborgenen Entschluss auszuführen; andere äussern offen, man möchte fast sagen, scham- los, ihren Hang, sich zu ermorden, und suchen ihn Wochen, Monate lang, durch jedes Mittel, mit Gewalt, oft vor den Augen der An- wesenden zu befriedigen. Auch in anderen Formen des Irreseins, ausser der Melancholie, kommen Antriebe zu freiwilligem Tode vor; sie beruhen dann seltener auf Lebensüberdruss, als vielmehr auf allerlei, im engern Sinn wahn- sinnigen Ideen, den Märtyrertod für die Menschheit zu sterben, das Paradies, das in glänzenden Visionen vor ihnen offen liegt, zu be- treten etc.; doch treten zuweilen auch bei Verrückten noch inter- currente Anfälle von Neigung zur Selbstzerstörung aus intensivstem Lebensüberdruss als eine Form des Raptus melancholicus oder maniacus auf. Die Anstalt Winnenthal enthielt lange einen schwachsinnig- verrückten Kranken (Ideen, Kaiser von China zu sein und dergl.), der von Zeit zu Zeit plötzlich, unter bedeutender Kopfcongestion, vom tiefsten Lebensüberdrusse befallen ward und nur durch anhaltende äus- sere Beschränkung von dem beständig intendirten Vorhaben des Selbst- 13 *

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/209>, abgerufen am 29.03.2024.