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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie.
man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab-
weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also
nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies-
sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi-
dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre-
tinismus, von dieser Schrift aus.

§. 6.

Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge-
hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den
übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung
überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch
äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? --
Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu
erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der-
artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn
nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho-
logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die-
selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt
wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder-
ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter
Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur
gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs-
versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil
der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und
als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen,
das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und
eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho-
logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal-
ten müssen.

§. 7.

Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des
Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium
geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des
Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie
bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle
nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf-
fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller-
geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger
sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia,
Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus

Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie.
man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab-
weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also
nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies-
sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi-
dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre-
tinismus, von dieser Schrift aus.

§. 6.

Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge-
hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den
übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung
überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch
äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? —
Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu
erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der-
artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn
nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho-
logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die-
selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt
wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder-
ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter
Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur
gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs-
versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil
der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und
als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen,
das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und
eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho-
logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal-
ten müssen.

§. 7.

Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des
Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium
geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des
Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie
bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle
nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf-
fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller-
geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger
sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia,
Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus

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[8/0022] Selbständigkeit dieses Theils der Gehirnpathologie. man unter Geisteskrankheiten, wie unter Krankheiten überhaupt, gewöhnlich Ab- weichungen vom individuell normalen Zustande versteht. Wir handeln also nur von den Geisteskrankheiten früher geistig-gesund Gewesener, schlies- sen demnach die angebornen oder noch vor Entwicklung einer geistigen Indivi- dualität entstandenen psychischen Hemmungen, den angebornen Blödsinn und Cre- tinismus, von dieser Schrift aus. §. 6. Da das Irresein nur ein Symptomencomplex verschiedener Ge- hirnkrankheiten ist, so könnte die Frage entstehen, ob seine von den übrigen Gehirnkrankheiten getrennte und abgesonderte Behandlung überhaupt zu rechtfertigen sei, ob nicht vielmehr die Psychiatrie auch äusserlich ganz in der cerebralen Pathologie aufzugehen habe? — Allein, wenn auch von einer ferneren Zukunft Solches vielleicht zu erwarten steht, so wäre doch heutzutage jeder Versuch einer der- artigen völligen Verschmelzung voreilig und völlig unausführbar. Wenn nur der innere Grundzusammenhang mit der sonstigen Gehirnpatho- logie stets im Auge behalten, wenn nur hier wie dort eine und die- selbe richtige, möglichst anatomisch-physiologische Methode befolgt wird, so wird die Cerebralpathologie von der äusserlich abgesonder- ten, monographischen Bearbeitung solcher symptomatisch gebildeter Krankheiten in ihrer inneren Gliederung nicht gestört, sondern nur gefördert. Um so weniger aber wäre ein solcher Verschmelzungs- versuch derzeit zulässig, als der Psychiatrie ihre Stellung als Theil der Gehirnpathologie überhaupt fast noch erobert werden muss, und als manche praktische Seiten der Psychiatrie (das Irrenanstaltswesen, das Verhältniss zur gerichtlichen Medicin etc.) ihr einen Umfang und eine Eigenthümlichkeit geben, die auch inmitten der Cerebralpatho- logie ihr unter allen Umständen eine grosse Selbstständigkeit erhal- ten müssen. §. 7. Da das Irresein eine Krankheit, und zwar eine Erkrankung des Gehirns ist, so kann es für dasselbe kein anderes richtiges Studium geben, als das ärztliche. Die Anatomie, Physiologie und Pathologie des Nervensystems, und die gesamte specielle Pathologie und Therapie bilden für den Irrenarzt die allernothwendigsten Vorkenntnisse. Alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auf- fassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntniss nur vom aller- geringsten Werthe. Einzelne poetische Darstellungen Wahnsinniger sind in manchen, der Natur abgelauschten Zügen vortrefflich (Ophelia, Lear, vor allem Don-Quixote); aber indem der Dichter fast durchaus

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/22>, abgerufen am 29.03.2024.