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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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maniacalischen Formen.
wie sich auch während des unmittelbaren Nach-Aussenwerfens der
krankhaften Willensimpulse durch Muskelbewegung unendlich häufig
die übermüthige Verstimmung, der Zustand der Selbstüberschätzung
ergeben muss, und wie es demgemäss auch leicht zum darauf ge-
gründeten Aufbau erklärender Wahnvorstellungen kommen kann, und
man kann denn in der Beobachtung der Tobsüchtigen täglich sehen,
wie bei ihnen solche grossartige Vorstellungen bald bloss durch-
blicken bald auch mit grosser Energie geäussert werden. Allein glück-
licherweise liegt in den ausgebildeten Zuständen von Tobsucht etwas,
was das Fixirtwerden solcher Wahnideen hindert. Die Vorstellungen
nehmen nemlich an dem Tumulte und der Präcipitation, in welche
von der motorischen Seite her das Seelenleben gesetzt worden ist,
Antheil, sie werden durch Hastigkeit verworren und jagen so schnell
vorüber, dass keine bleiben und dauern kann. Wo dagegen kein
solch hastiges Vorüberfliehen ist, wo dabei schon die gehobene
Stimmung, noch mehr die Wahnvorstellungen selbst sich dem Ich
in einer Weise aufdrängen, dass sie zu wesentlichen, ja zu Haupt-
bestandtheilen desselben, nicht nur subjective Wahrheit für die Kranken,
sondern die beherrschenden Elemente seines ganzen Seelenlebens
werden, da nennt man diess Wahnsinn.

Der Unterschied der Tobsucht von dem Wahnsinn, wie er sich
in reinen, exquisiten Fällen darbietet, besteht also hauptsächlich in
der verschiedenen Richtung, welche die ursprüngliche Störung nimmt,
in der verschiedenen Art, wie das Vorstellen überhaupt krankhaft
verändert, und wie das Ich afficirt wird. Bei der Tobsucht geht der
verstärkte Impuls des Wollens unmittelbar als Trieb durch Muskel-
bewegung nach aussen; im Wahnsinn ist es nur ein innerlich aus-
schweifendes Wollen, wobei die Selbstempfindung freierer Thatkraft
durch eine Rückwirkung zu exaltirten falschen Vorstellungen wird,
und wo es dann jenem Wollen, wenn es sich äussert, nicht um
blosse Bewegung und Entladung durch diese Bewegung, sondern
vielmehr um die Realisirung gewisser Plane zu thun ist, welche aus
jenen falschen Vorstellungen hervorgehen. Dieser Irrthum in den
Vorstellungen besteht eben in festen, aus Selbstüberschätzung ent-
sprungenen Wahnideen in Bezug auf die eigene Persönlichkeit,
während die Störung des Vorstellens in der Tobsucht hauptsächlich
in delirienartiger Verwirrung in Folge der Präcipitation aller psychischen
Processe besteht.

Endlich werden wir denn noch einen dritten Zustand mehr schein-
barer als wirklicher psychischer Exaltation zu betrachten haben, welcher

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maniacalischen Formen.
wie sich auch während des unmittelbaren Nach-Aussenwerfens der
krankhaften Willensimpulse durch Muskelbewegung unendlich häufig
die übermüthige Verstimmung, der Zustand der Selbstüberschätzung
ergeben muss, und wie es demgemäss auch leicht zum darauf ge-
gründeten Aufbau erklärender Wahnvorstellungen kommen kann, und
man kann denn in der Beobachtung der Tobsüchtigen täglich sehen,
wie bei ihnen solche grossartige Vorstellungen bald bloss durch-
blicken bald auch mit grosser Energie geäussert werden. Allein glück-
licherweise liegt in den ausgebildeten Zuständen von Tobsucht etwas,
was das Fixirtwerden solcher Wahnideen hindert. Die Vorstellungen
nehmen nemlich an dem Tumulte und der Präcipitation, in welche
von der motorischen Seite her das Seelenleben gesetzt worden ist,
Antheil, sie werden durch Hastigkeit verworren und jagen so schnell
vorüber, dass keine bleiben und dauern kann. Wo dagegen kein
solch hastiges Vorüberfliehen ist, wo dabei schon die gehobene
Stimmung, noch mehr die Wahnvorstellungen selbst sich dem Ich
in einer Weise aufdrängen, dass sie zu wesentlichen, ja zu Haupt-
bestandtheilen desselben, nicht nur subjective Wahrheit für die Kranken,
sondern die beherrschenden Elemente seines ganzen Seelenlebens
werden, da nennt man diess Wahnsinn.

Der Unterschied der Tobsucht von dem Wahnsinn, wie er sich
in reinen, exquisiten Fällen darbietet, besteht also hauptsächlich in
der verschiedenen Richtung, welche die ursprüngliche Störung nimmt,
in der verschiedenen Art, wie das Vorstellen überhaupt krankhaft
verändert, und wie das Ich afficirt wird. Bei der Tobsucht geht der
verstärkte Impuls des Wollens unmittelbar als Trieb durch Muskel-
bewegung nach aussen; im Wahnsinn ist es nur ein innerlich aus-
schweifendes Wollen, wobei die Selbstempfindung freierer Thatkraft
durch eine Rückwirkung zu exaltirten falschen Vorstellungen wird,
und wo es dann jenem Wollen, wenn es sich äussert, nicht um
blosse Bewegung und Entladung durch diese Bewegung, sondern
vielmehr um die Realisirung gewisser Plane zu thun ist, welche aus
jenen falschen Vorstellungen hervorgehen. Dieser Irrthum in den
Vorstellungen besteht eben in festen, aus Selbstüberschätzung ent-
sprungenen Wahnideen in Bezug auf die eigene Persönlichkeit,
während die Störung des Vorstellens in der Tobsucht hauptsächlich
in delirienartiger Verwirrung in Folge der Präcipitation aller psychischen
Processe besteht.

Endlich werden wir denn noch einen dritten Zustand mehr schein-
barer als wirklicher psychischer Exaltation zu betrachten haben, welcher

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[211/0225] maniacalischen Formen. wie sich auch während des unmittelbaren Nach-Aussenwerfens der krankhaften Willensimpulse durch Muskelbewegung unendlich häufig die übermüthige Verstimmung, der Zustand der Selbstüberschätzung ergeben muss, und wie es demgemäss auch leicht zum darauf ge- gründeten Aufbau erklärender Wahnvorstellungen kommen kann, und man kann denn in der Beobachtung der Tobsüchtigen täglich sehen, wie bei ihnen solche grossartige Vorstellungen bald bloss durch- blicken bald auch mit grosser Energie geäussert werden. Allein glück- licherweise liegt in den ausgebildeten Zuständen von Tobsucht etwas, was das Fixirtwerden solcher Wahnideen hindert. Die Vorstellungen nehmen nemlich an dem Tumulte und der Präcipitation, in welche von der motorischen Seite her das Seelenleben gesetzt worden ist, Antheil, sie werden durch Hastigkeit verworren und jagen so schnell vorüber, dass keine bleiben und dauern kann. Wo dagegen kein solch hastiges Vorüberfliehen ist, wo dabei schon die gehobene Stimmung, noch mehr die Wahnvorstellungen selbst sich dem Ich in einer Weise aufdrängen, dass sie zu wesentlichen, ja zu Haupt- bestandtheilen desselben, nicht nur subjective Wahrheit für die Kranken, sondern die beherrschenden Elemente seines ganzen Seelenlebens werden, da nennt man diess Wahnsinn. Der Unterschied der Tobsucht von dem Wahnsinn, wie er sich in reinen, exquisiten Fällen darbietet, besteht also hauptsächlich in der verschiedenen Richtung, welche die ursprüngliche Störung nimmt, in der verschiedenen Art, wie das Vorstellen überhaupt krankhaft verändert, und wie das Ich afficirt wird. Bei der Tobsucht geht der verstärkte Impuls des Wollens unmittelbar als Trieb durch Muskel- bewegung nach aussen; im Wahnsinn ist es nur ein innerlich aus- schweifendes Wollen, wobei die Selbstempfindung freierer Thatkraft durch eine Rückwirkung zu exaltirten falschen Vorstellungen wird, und wo es dann jenem Wollen, wenn es sich äussert, nicht um blosse Bewegung und Entladung durch diese Bewegung, sondern vielmehr um die Realisirung gewisser Plane zu thun ist, welche aus jenen falschen Vorstellungen hervorgehen. Dieser Irrthum in den Vorstellungen besteht eben in festen, aus Selbstüberschätzung ent- sprungenen Wahnideen in Bezug auf die eigene Persönlichkeit, während die Störung des Vorstellens in der Tobsucht hauptsächlich in delirienartiger Verwirrung in Folge der Präcipitation aller psychischen Processe besteht. Endlich werden wir denn noch einen dritten Zustand mehr schein- barer als wirklicher psychischer Exaltation zu betrachten haben, welcher 14*

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/225>, abgerufen am 29.03.2024.