Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Unvollständig entwickelte Formen der
Störung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge-
meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte
Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn-
liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer,
immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt
nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche
Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu
kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc.; Alles,
was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und
besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende
Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich
geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro-
ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher,
ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem,
zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent-
gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. -- Die Kranken sprechen
meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der
Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen
Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich-
neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den
eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper-
lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel
zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über-
trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm,
dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche
Eigenschaften zuzuschreiben.

Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber-
einstimmung mit Jessen *) gegebenen Schilderung einen Zustand
mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion
des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung
fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter
der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist,
je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank-
haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch
im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent-
schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein
krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen
und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff
der Folie raisonnante und constituirt deren maniacalische Form.

*) Art. Moria. Berl. Encycl. Wörterbuch. Bd. XXIV. p. 127 seqq.

Unvollständig entwickelte Formen der
Störung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge-
meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte
Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn-
liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer,
immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt
nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche
Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu
kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc.; Alles,
was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und
besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende
Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich
geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro-
ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher,
ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem,
zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent-
gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. — Die Kranken sprechen
meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der
Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen
Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich-
neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den
eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper-
lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel
zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über-
trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm,
dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche
Eigenschaften zuzuschreiben.

Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber-
einstimmung mit Jessen *) gegebenen Schilderung einen Zustand
mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion
des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung
fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter
der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist,
je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank-
haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch
im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent-
schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein
krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen
und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff
der Folie raisonnante und constituirt deren maniacalische Form.

*) Art. Moria. Berl. Éncycl. Wörterbuch. Bd. XXIV. p. 127 seqq.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0248" n="234"/><fw place="top" type="header">Unvollständig entwickelte Formen der</fw><lb/>
Störung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge-<lb/>
meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte<lb/>
Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn-<lb/>
liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer,<lb/>
immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt<lb/>
nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche<lb/>
Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu<lb/>
kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc.; Alles,<lb/>
was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und<lb/>
besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende<lb/>
Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich<lb/>
geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro-<lb/>
ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher,<lb/>
ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem,<lb/>
zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent-<lb/>
gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. &#x2014; Die Kranken sprechen<lb/>
meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der<lb/>
Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen<lb/>
Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich-<lb/>
neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den<lb/>
eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper-<lb/>
lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel<lb/>
zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über-<lb/>
trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm,<lb/>
dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche<lb/>
Eigenschaften zuzuschreiben.</p><lb/>
              <p>Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber-<lb/>
einstimmung mit Jessen <note place="foot" n="*)">Art. Moria. Berl. Éncycl. Wörterbuch. Bd. XXIV. p. 127 seqq.</note> gegebenen Schilderung einen Zustand<lb/>
mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion<lb/>
des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung<lb/>
fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter<lb/>
der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist,<lb/>
je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank-<lb/>
haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch<lb/>
im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent-<lb/>
schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein<lb/>
krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen<lb/>
und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff<lb/>
der <hi rendition="#g">Folie raisonnante</hi> und constituirt deren maniacalische Form.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0248] Unvollständig entwickelte Formen der Störung der Intelligenz zeigt. Häufig zeigt sich aber auch eine allge- meine, nicht auf eine bestimmte Reihe von Objecten concentrirte Steigerung des Wollens, und solche äussert sich als eine ungewöhn- liche und unstete Thätigkeit und Geschäftigkeit, als ein grosser Eifer, immer etwas Neues anzufangen, als ein Bedürfniss, die Aussenwelt nach excentrischen Projecten zu verändern und umzugestalten. Solche Kranke haben immer etwas zu thun, Speculationen zu machen, zu kaufen oder zu verkaufen, zu verschenken, zu bauen etc.; Alles, was sie sehen oder was ihnen einfällt, wollen sie auch haben und besitzen, und sie verschleudern damit oft in kurzer Zeit hedeutende Summen. Ihr Benehmen zeigt gewöhnlich Eitelkeit, die Sucht sich geltend zu machen und Aufsehen zu erregen, Dreistigkeit und Arro- ganz. Die Stimmung wechselt meist schnell zwischen fröhlicher, ausgelassener Laune, zwischen Depression und wieder heftigem, zornigem Aufbrausen, letzteres besonders, wenn ihrem Thun ent- gegengetreten und ihre Eitelkeit verletzt wird. — Die Kranken sprechen meist viel, laut und hastig, doch ohne eigentliches Delirium. Der Inhalt der Reden zeigt eine übertriebene Meinung von der eigenen Person, keineswegs noch etwa den Wahn einer andern ausgezeich- neten Persönlichkeit, sondern nur die Neigung, sich selbst, den eigenen Fähigkeiten und Leistungen, seinem Vermögen, seinen körper- lichen Kräften, seiner Gesundheit oder Wohlgestalt möglichst viel zuzutrauen. Die hohe Meinung, die der Kranke von sich hat, über- trägt er nicht selten auf Alles, was ihm gehört, und es genügt ihm, dass etwas in seinen Besitz gekommen ist, um ihm ausserordentliche Eigenschaften zuzuschreiben. Man erkennt in dieser, nach eigenen Beobachtungen in Ueber- einstimmung mit Jessen *) gegebenen Schilderung einen Zustand mässiger Exaltation, der bei einer nach aussen gerichteten Explosion des Strebens zur Tobsucht, bei mehr innerlicher Steigerung und Bildung fixer Wahnvorstellungen zum ausgebildeten Wahnsinn wird. Je entfernter der Zustand noch von einer dieser deutlich characterisirten Formen ist, je weniger namentlich der Kranke delirirt, je eher er noch sein krank- haftes Treiben mit Gründen zu rechtfertigen vermag, welche noch im Bereiche der Möglichkeit liegen und sich noch nicht als ent- schieden wahnwitzig darstellen, um so leichter wird der Zustand als ein krankhafter verkannt und mit der Hingabe des Gesunden an Launen und thörichte Neigungen verwechselt. Er fällt alsdann unter den Begriff der Folie raisonnante und constituirt deren maniacalische Form. *) Art. Moria. Berl. Éncycl. Wörterbuch. Bd. XXIV. p. 127 seqq.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/248
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/248>, abgerufen am 19.04.2024.