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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Allgemeines über die psychischen Schwächezustände.
Affecten, die Grund-Anomalie bilden (§. 26.). Diese Störung der
Intelligenz trägt entweder ganz offen den entschiedenen Character
der Schwäche an sich, der sich beim eigentlichen Blödsinn in
der Energielosigkeit des Vorstellens, dem Mangel der normalen Ge-
danken-Reproduction (Verlust des Gedächtnisses) und jeder gesunden
Combination äussert und bis zum gänzlichen Auseinanderfallen des
geistigen Lebens gehen kann, womit zugleich Schwäche auf der moto-
rischen Seite des Seelenlebens, Energielosigkeit oder völliger Verlust
des Willens und Gemüthsschwäche, ein stumpfes Beharren des psy-
chischen Tonus aus Mangel an Reactionsfähigkeit oder ein Wechsel
nur oberflächlicher Reactionen gegeben ist. Oder jener Character psy-
chischer Schwäche ist gewissermassen verdeckt durch das Herrschen
einzelner Wahn-Vorstellungen, in deren starrem Festhalten der ganze
Rest psychischer Kraft aufgeht, hinter denen aber im Bewusstsein
nur eine leere Oede liegt. Aus dieser Leere erheben sich keine
Vorstellungen mehr, die den Wahn anfechten und umstossen könnten;
ungeachtet er nicht mehr von einem herrschenden Affecte gehalten
und getragen wird, bleibt der Wahn hier fix wegen Lückenhaftigkeiten
des Denkens, die dann gewöhnlich nicht bloss das eng umgrenzte
Gebiet der fixen Wahn-Vorstellungen betreffen, sondern nur Theil-
Erscheinungen einer allgemeinen Herabsetzung und Verödung aller
psychischen Processe sind. Insoferne glauben wir die partielle Ver-
rücktheit
zu den psychischen Schwächezuständen zählen zu müssen.

Alle diese Zustände zeigen nicht mehr die Wandelbarkeit der
bisherigen Formen und jene Activität des krankhaften Processes, in
der sich so sichtbar das Schema des thätigen, gesunden Seelenlebens,
geistige Verarbeitung und Combination (namentlich nach dem Causa-
litäts-Gesetze) erkennen liess. Die falschen Vorstellungen beruhen viel-
mehr hier, sofern sie nicht eben aus einer früheren Periode herüber
genommen sind, zum grössten Theile auf Zusammenhangslosigkeit und
Schwäche des Denkens, oder in der partiellen Verrücktheit auf affect-
losen Hallucinationen und auf einer immer weiter durchdringenden
Ausbreitung der früher gebildeten Wahn-Vorstellungen über den ganzen
möglichen Inhalt des Vorstellens. Alle diese krankhaften Zustände sind
(wieder mit wenigen Ausnahmen), wo sie nicht durch den Tod ab-
gekürzt werden, von sehr chronischem Verlauf und gemeinhin nur
nach einer Seite hin noch einer Veränderung und eines Wechsels
fähig, nemlich insoferne die psychische Schwäche immer tiefer wird.
Doch bleiben sie oft lange Reihen von Jahren gänzlich stationär;
einer vollständigen Heilung sind sie nicht mehr fähig.

Allgemeines über die psychischen Schwächezustände.
Affecten, die Grund-Anomalie bilden (§. 26.). Diese Störung der
Intelligenz trägt entweder ganz offen den entschiedenen Character
der Schwäche an sich, der sich beim eigentlichen Blödsinn in
der Energielosigkeit des Vorstellens, dem Mangel der normalen Ge-
danken-Reproduction (Verlust des Gedächtnisses) und jeder gesunden
Combination äussert und bis zum gänzlichen Auseinanderfallen des
geistigen Lebens gehen kann, womit zugleich Schwäche auf der moto-
rischen Seite des Seelenlebens, Energielosigkeit oder völliger Verlust
des Willens und Gemüthsschwäche, ein stumpfes Beharren des psy-
chischen Tonus aus Mangel an Reactionsfähigkeit oder ein Wechsel
nur oberflächlicher Reactionen gegeben ist. Oder jener Character psy-
chischer Schwäche ist gewissermassen verdeckt durch das Herrschen
einzelner Wahn-Vorstellungen, in deren starrem Festhalten der ganze
Rest psychischer Kraft aufgeht, hinter denen aber im Bewusstsein
nur eine leere Oede liegt. Aus dieser Leere erheben sich keine
Vorstellungen mehr, die den Wahn anfechten und umstossen könnten;
ungeachtet er nicht mehr von einem herrschenden Affecte gehalten
und getragen wird, bleibt der Wahn hier fix wegen Lückenhaftigkeiten
des Denkens, die dann gewöhnlich nicht bloss das eng umgrenzte
Gebiet der fixen Wahn-Vorstellungen betreffen, sondern nur Theil-
Erscheinungen einer allgemeinen Herabsetzung und Verödung aller
psychischen Processe sind. Insoferne glauben wir die partielle Ver-
rücktheit
zu den psychischen Schwächezuständen zählen zu müssen.

Alle diese Zustände zeigen nicht mehr die Wandelbarkeit der
bisherigen Formen und jene Activität des krankhaften Processes, in
der sich so sichtbar das Schema des thätigen, gesunden Seelenlebens,
geistige Verarbeitung und Combination (namentlich nach dem Causa-
litäts-Gesetze) erkennen liess. Die falschen Vorstellungen beruhen viel-
mehr hier, sofern sie nicht eben aus einer früheren Periode herüber
genommen sind, zum grössten Theile auf Zusammenhangslosigkeit und
Schwäche des Denkens, oder in der partiellen Verrücktheit auf affect-
losen Hallucinationen und auf einer immer weiter durchdringenden
Ausbreitung der früher gebildeten Wahn-Vorstellungen über den ganzen
möglichen Inhalt des Vorstellens. Alle diese krankhaften Zustände sind
(wieder mit wenigen Ausnahmen), wo sie nicht durch den Tod ab-
gekürzt werden, von sehr chronischem Verlauf und gemeinhin nur
nach einer Seite hin noch einer Veränderung und eines Wechsels
fähig, nemlich insoferne die psychische Schwäche immer tiefer wird.
Doch bleiben sie oft lange Reihen von Jahren gänzlich stationär;
einer vollständigen Heilung sind sie nicht mehr fähig.

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[254/0268] Allgemeines über die psychischen Schwächezustände. Affecten, die Grund-Anomalie bilden (§. 26.). Diese Störung der Intelligenz trägt entweder ganz offen den entschiedenen Character der Schwäche an sich, der sich beim eigentlichen Blödsinn in der Energielosigkeit des Vorstellens, dem Mangel der normalen Ge- danken-Reproduction (Verlust des Gedächtnisses) und jeder gesunden Combination äussert und bis zum gänzlichen Auseinanderfallen des geistigen Lebens gehen kann, womit zugleich Schwäche auf der moto- rischen Seite des Seelenlebens, Energielosigkeit oder völliger Verlust des Willens und Gemüthsschwäche, ein stumpfes Beharren des psy- chischen Tonus aus Mangel an Reactionsfähigkeit oder ein Wechsel nur oberflächlicher Reactionen gegeben ist. Oder jener Character psy- chischer Schwäche ist gewissermassen verdeckt durch das Herrschen einzelner Wahn-Vorstellungen, in deren starrem Festhalten der ganze Rest psychischer Kraft aufgeht, hinter denen aber im Bewusstsein nur eine leere Oede liegt. Aus dieser Leere erheben sich keine Vorstellungen mehr, die den Wahn anfechten und umstossen könnten; ungeachtet er nicht mehr von einem herrschenden Affecte gehalten und getragen wird, bleibt der Wahn hier fix wegen Lückenhaftigkeiten des Denkens, die dann gewöhnlich nicht bloss das eng umgrenzte Gebiet der fixen Wahn-Vorstellungen betreffen, sondern nur Theil- Erscheinungen einer allgemeinen Herabsetzung und Verödung aller psychischen Processe sind. Insoferne glauben wir die partielle Ver- rücktheit zu den psychischen Schwächezuständen zählen zu müssen. Alle diese Zustände zeigen nicht mehr die Wandelbarkeit der bisherigen Formen und jene Activität des krankhaften Processes, in der sich so sichtbar das Schema des thätigen, gesunden Seelenlebens, geistige Verarbeitung und Combination (namentlich nach dem Causa- litäts-Gesetze) erkennen liess. Die falschen Vorstellungen beruhen viel- mehr hier, sofern sie nicht eben aus einer früheren Periode herüber genommen sind, zum grössten Theile auf Zusammenhangslosigkeit und Schwäche des Denkens, oder in der partiellen Verrücktheit auf affect- losen Hallucinationen und auf einer immer weiter durchdringenden Ausbreitung der früher gebildeten Wahn-Vorstellungen über den ganzen möglichen Inhalt des Vorstellens. Alle diese krankhaften Zustände sind (wieder mit wenigen Ausnahmen), wo sie nicht durch den Tod ab- gekürzt werden, von sehr chronischem Verlauf und gemeinhin nur nach einer Seite hin noch einer Veränderung und eines Wechsels fähig, nemlich insoferne die psychische Schwäche immer tiefer wird. Doch bleiben sie oft lange Reihen von Jahren gänzlich stationär; einer vollständigen Heilung sind sie nicht mehr fähig.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/268>, abgerufen am 24.04.2024.