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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Primäres Vorkommen psychischer Schwäche.
§. 121.

Wir bekommen also hier zwei grössere Gruppen von Zuständen,
die Verrücktheit und den Blödsinn. In Bezug auf die erstere
verweisen wir auf die folgende nähere Schilderung derselben; in der
Form des Blödsinns unterscheiden wir wieder zwei Abtheilungen, die
eine mit Verworrenheit, aber noch grösserer, wenn gleich nur ober-
flächlicher Thätigkeit des Vorstellens, gewöhnlich auch mit einiger
äusseren Agitation, (die Verwirrtheit, Demence), die andere mit
höchster Trägheit des Vorstellens bis zu völligem Aufhören desselben
und mit äusserer, apathischer Ruhe (den apathischen Blödsinn.) Ueberall
haben wir dabei nur den erworbenen Blödsinn im Auge, d. h.
denjenigen, welcher bei Menschen vorkommt, welche früher geistes-
gesund waren, und wir schliessen als nicht zu dieser Erörterung
gehörig, den angeborenen oder in den ersten Lebens-Perioden ent-
standenen Blödsinn, die verschiedenen Grade des Idiotismus (vom
tiefsten Cretinismus bis zur einfachen Albernheit) aus.

Solcher erworbene Blödsinn nun, als eigene Form des Irreseins
betrachtet, kann allerdings primär, d. h. ohne dass ihm eine andere
Form psychischer Krankheit oder eine anderweitige schwere Gehirn-
krankheit vorausgegangen wäre, entstehen, z. B. als Geistesschwäche
des hohen Alters oder einer frühzeitigen Decrepidität, oder bei lang-
samer Entwicklung von Geschwülsten in der Schädelhöhle etc. Was
indessen die Fälle betrifft, welche von vielen Schriftstellern als acut
entstandener, heilbarer, primärer Blödsinn beschrieben werden, so
gehört gewiss deren grosse Mehrzahl zur Melancholie mit Stupor,
bei deren Beschreibung schon auf die leichte Verwechslung mit wirk-
licher psychischer Schwäche und auf die Unterscheidungsmerkmale
beider aufmerksam gemacht wurde. (§. 101.) Doch kommen unzweifel-
haft theils Mittelzustände zwischen melancholischem Stumpfsinn und
wirklichem Blödsinn, theils entschiedene Fälle primären, acuten und
heilbaren Blödsinns vor und wir wollen diess ausdrücklich durch An-
führung eines interessanten Beispiels bekräftigen, eines Falles, wo
der Blödsinn höchst wahrscheinlich durch Gehirn-Oedem in Folge
eines Druckes auf die Hals-Venen entstand.

XXXVI. Mehrwöchentlicher blödsinniger Zustand ohne
Rückerinnerung desselben nach einem Strangulations-
versuche
. Ein 25jähriger kräftiger Gefangener erhängt sich; fast unmittelbar
nach Abnahme des Körpers zeigen sich Lebensäusserungen, das Bewusstsein
kehrt zurück; Patient gibt, anscheinend ganz ruhig und vernünftig, die Geschichte
seines Lebens und seine Motive (Lebensüberdruss) an. Am folgenden Tage ist

Primäres Vorkommen psychischer Schwäche.
§. 121.

Wir bekommen also hier zwei grössere Gruppen von Zuständen,
die Verrücktheit und den Blödsinn. In Bezug auf die erstere
verweisen wir auf die folgende nähere Schilderung derselben; in der
Form des Blödsinns unterscheiden wir wieder zwei Abtheilungen, die
eine mit Verworrenheit, aber noch grösserer, wenn gleich nur ober-
flächlicher Thätigkeit des Vorstellens, gewöhnlich auch mit einiger
äusseren Agitation, (die Verwirrtheit, Démence), die andere mit
höchster Trägheit des Vorstellens bis zu völligem Aufhören desselben
und mit äusserer, apathischer Ruhe (den apathischen Blödsinn.) Ueberall
haben wir dabei nur den erworbenen Blödsinn im Auge, d. h.
denjenigen, welcher bei Menschen vorkommt, welche früher geistes-
gesund waren, und wir schliessen als nicht zu dieser Erörterung
gehörig, den angeborenen oder in den ersten Lebens-Perioden ent-
standenen Blödsinn, die verschiedenen Grade des Idiotismus (vom
tiefsten Cretinismus bis zur einfachen Albernheit) aus.

Solcher erworbene Blödsinn nun, als eigene Form des Irreseins
betrachtet, kann allerdings primär, d. h. ohne dass ihm eine andere
Form psychischer Krankheit oder eine anderweitige schwere Gehirn-
krankheit vorausgegangen wäre, entstehen, z. B. als Geistesschwäche
des hohen Alters oder einer frühzeitigen Decrepidität, oder bei lang-
samer Entwicklung von Geschwülsten in der Schädelhöhle etc. Was
indessen die Fälle betrifft, welche von vielen Schriftstellern als acut
entstandener, heilbarer, primärer Blödsinn beschrieben werden, so
gehört gewiss deren grosse Mehrzahl zur Melancholie mit Stupor,
bei deren Beschreibung schon auf die leichte Verwechslung mit wirk-
licher psychischer Schwäche und auf die Unterscheidungsmerkmale
beider aufmerksam gemacht wurde. (§. 101.) Doch kommen unzweifel-
haft theils Mittelzustände zwischen melancholischem Stumpfsinn und
wirklichem Blödsinn, theils entschiedene Fälle primären, acuten und
heilbaren Blödsinns vor und wir wollen diess ausdrücklich durch An-
führung eines interessanten Beispiels bekräftigen, eines Falles, wo
der Blödsinn höchst wahrscheinlich durch Gehirn-Oedem in Folge
eines Druckes auf die Hals-Venen entstand.

XXXVI. Mehrwöchentlicher blödsinniger Zustand ohne
Rückerinnerung desselben nach einem Strangulations-
versuche
. Ein 25jähriger kräftiger Gefangener erhängt sich; fast unmittelbar
nach Abnahme des Körpers zeigen sich Lebensäusserungen, das Bewusstsein
kehrt zurück; Patient gibt, anscheinend ganz ruhig und vernünftig, die Geschichte
seines Lebens und seine Motive (Lebensüberdruss) an. Am folgenden Tage ist

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[255/0269] Primäres Vorkommen psychischer Schwäche. §. 121. Wir bekommen also hier zwei grössere Gruppen von Zuständen, die Verrücktheit und den Blödsinn. In Bezug auf die erstere verweisen wir auf die folgende nähere Schilderung derselben; in der Form des Blödsinns unterscheiden wir wieder zwei Abtheilungen, die eine mit Verworrenheit, aber noch grösserer, wenn gleich nur ober- flächlicher Thätigkeit des Vorstellens, gewöhnlich auch mit einiger äusseren Agitation, (die Verwirrtheit, Démence), die andere mit höchster Trägheit des Vorstellens bis zu völligem Aufhören desselben und mit äusserer, apathischer Ruhe (den apathischen Blödsinn.) Ueberall haben wir dabei nur den erworbenen Blödsinn im Auge, d. h. denjenigen, welcher bei Menschen vorkommt, welche früher geistes- gesund waren, und wir schliessen als nicht zu dieser Erörterung gehörig, den angeborenen oder in den ersten Lebens-Perioden ent- standenen Blödsinn, die verschiedenen Grade des Idiotismus (vom tiefsten Cretinismus bis zur einfachen Albernheit) aus. Solcher erworbene Blödsinn nun, als eigene Form des Irreseins betrachtet, kann allerdings primär, d. h. ohne dass ihm eine andere Form psychischer Krankheit oder eine anderweitige schwere Gehirn- krankheit vorausgegangen wäre, entstehen, z. B. als Geistesschwäche des hohen Alters oder einer frühzeitigen Decrepidität, oder bei lang- samer Entwicklung von Geschwülsten in der Schädelhöhle etc. Was indessen die Fälle betrifft, welche von vielen Schriftstellern als acut entstandener, heilbarer, primärer Blödsinn beschrieben werden, so gehört gewiss deren grosse Mehrzahl zur Melancholie mit Stupor, bei deren Beschreibung schon auf die leichte Verwechslung mit wirk- licher psychischer Schwäche und auf die Unterscheidungsmerkmale beider aufmerksam gemacht wurde. (§. 101.) Doch kommen unzweifel- haft theils Mittelzustände zwischen melancholischem Stumpfsinn und wirklichem Blödsinn, theils entschiedene Fälle primären, acuten und heilbaren Blödsinns vor und wir wollen diess ausdrücklich durch An- führung eines interessanten Beispiels bekräftigen, eines Falles, wo der Blödsinn höchst wahrscheinlich durch Gehirn-Oedem in Folge eines Druckes auf die Hals-Venen entstand. XXXVI. Mehrwöchentlicher blödsinniger Zustand ohne Rückerinnerung desselben nach einem Strangulations- versuche. Ein 25jähriger kräftiger Gefangener erhängt sich; fast unmittelbar nach Abnahme des Körpers zeigen sich Lebensäusserungen, das Bewusstsein kehrt zurück; Patient gibt, anscheinend ganz ruhig und vernünftig, die Geschichte seines Lebens und seine Motive (Lebensüberdruss) an. Am folgenden Tage ist

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/269>, abgerufen am 19.04.2024.