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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Symptomatologie.
unbestimmte Töne, selbst sitzend oder liegend kann er die Beine
kaum mehr heben und strecken, während dagegen den Armen und
Händen immer noch eine freiere Beweglichkeit bleibt.

Was die Sensibilität betrifft, so bleiben die höheren Sinne meist
bis zur letzten Periode ohne auffallende Beeinträchtigung; erst nach
längerer Dauer der Affection nehmen Geruch und Geschmack ab, der
Kranke kann z. B. Wasser und Wein nicht mehr von einander unter-
scheiden. Die Hautsensibilität zeigt zuweilen ein sehr merkwürdiges
Verhalten. Während sie nemlich im Ganzen mit dem Beginn der
Lähmung stumpfer zu werden scheint und später in einzelnen Fällen
fast erloschen ist (so dass man den Kranken lebhaft kneipen kann,
ohne dass er Zeichen von Schmerz gibt), so kommen mitunter vor-
übergehende Zustände höchster Hyperästhesie der Hautoberfläche vor,
bei welchen leise Berührungen die ausgebreitetsten Reflexbewegungen,
Convulsionen aller willkührlichen Muskeln erregen, ein Zustand, der
mit dem Verhalten der mit Strychnin vergifteten Thiere die grösste
Aehnlichkeit zeigt. In einem besonders exquisiten Falle der Art
konnten wir diese Hauthyperästhesie in den nächsten Stunden, welche
einem Anfalle von Convulsionen folgten, genau beobachten.

Nicht selten nemlich kommen bei diesen Kranken unter den
Erscheinungen heftiger Kopfcongestion plötzliche Anfälle von Bewusst-
losigkeit, gewöhnlich mit ausgebreiteten, Epilepsieähnlichen Convul-
sionen vor, welche meist, wenn einmal eingetreten, sich häufig wie-
derholen, in denen der Kranke zuweilen stirbt, von denen er sich
aber gewöhnlich wieder bald erholt. Wenn diess auch geschieht, so
bemerkt man doch in der Regel nach jedem solchen Anfall eine
Zunahme der Paralyse und der psychischen Abstumpfung; nicht selten
bleiben auch nach dem Anfall Contracturen einzelner Glieder, des
Vorderarms, der Finger oder der Beine zurück.

§. 131.

Die psychischen Störungen bei diesen Kranken haben im Anfang
der Paralyse nicht immer denselben Character. Die Lähmung kann --
und diess ist das seltenste -- bei melancholischen Irren eintreten *)
und der Kranke die melancholische Grundlage des Deliriums längere
Zeit festhalten. Bei weitem häufiger fällt der Beginn der Paralyse
mit einem psychischen Exaltationszustande zusammen, mit dem vagen

*) S. z. B. bei Calmeil, de la paralysie consideree chez les alienes. Par.
1826. p. 328.

Symptomatologie.
unbestimmte Töne, selbst sitzend oder liegend kann er die Beine
kaum mehr heben und strecken, während dagegen den Armen und
Händen immer noch eine freiere Beweglichkeit bleibt.

Was die Sensibilität betrifft, so bleiben die höheren Sinne meist
bis zur letzten Periode ohne auffallende Beeinträchtigung; erst nach
längerer Dauer der Affection nehmen Geruch und Geschmack ab, der
Kranke kann z. B. Wasser und Wein nicht mehr von einander unter-
scheiden. Die Hautsensibilität zeigt zuweilen ein sehr merkwürdiges
Verhalten. Während sie nemlich im Ganzen mit dem Beginn der
Lähmung stumpfer zu werden scheint und später in einzelnen Fällen
fast erloschen ist (so dass man den Kranken lebhaft kneipen kann,
ohne dass er Zeichen von Schmerz gibt), so kommen mitunter vor-
übergehende Zustände höchster Hyperästhesie der Hautoberfläche vor,
bei welchen leise Berührungen die ausgebreitetsten Reflexbewegungen,
Convulsionen aller willkührlichen Muskeln erregen, ein Zustand, der
mit dem Verhalten der mit Strychnin vergifteten Thiere die grösste
Aehnlichkeit zeigt. In einem besonders exquisiten Falle der Art
konnten wir diese Hauthyperästhesie in den nächsten Stunden, welche
einem Anfalle von Convulsionen folgten, genau beobachten.

Nicht selten nemlich kommen bei diesen Kranken unter den
Erscheinungen heftiger Kopfcongestion plötzliche Anfälle von Bewusst-
losigkeit, gewöhnlich mit ausgebreiteten, Epilepsieähnlichen Convul-
sionen vor, welche meist, wenn einmal eingetreten, sich häufig wie-
derholen, in denen der Kranke zuweilen stirbt, von denen er sich
aber gewöhnlich wieder bald erholt. Wenn diess auch geschieht, so
bemerkt man doch in der Regel nach jedem solchen Anfall eine
Zunahme der Paralyse und der psychischen Abstumpfung; nicht selten
bleiben auch nach dem Anfall Contracturen einzelner Glieder, des
Vorderarms, der Finger oder der Beine zurück.

§. 131.

Die psychischen Störungen bei diesen Kranken haben im Anfang
der Paralyse nicht immer denselben Character. Die Lähmung kann —
und diess ist das seltenste — bei melancholischen Irren eintreten *)
und der Kranke die melancholische Grundlage des Deliriums längere
Zeit festhalten. Bei weitem häufiger fällt der Beginn der Paralyse
mit einem psychischen Exaltationszustande zusammen, mit dem vagen

*) S. z. B. bei Calmeil, de la paralysie considerée chez les aliénés. Par.
1826. p. 328.
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[283/0297] Symptomatologie. unbestimmte Töne, selbst sitzend oder liegend kann er die Beine kaum mehr heben und strecken, während dagegen den Armen und Händen immer noch eine freiere Beweglichkeit bleibt. Was die Sensibilität betrifft, so bleiben die höheren Sinne meist bis zur letzten Periode ohne auffallende Beeinträchtigung; erst nach längerer Dauer der Affection nehmen Geruch und Geschmack ab, der Kranke kann z. B. Wasser und Wein nicht mehr von einander unter- scheiden. Die Hautsensibilität zeigt zuweilen ein sehr merkwürdiges Verhalten. Während sie nemlich im Ganzen mit dem Beginn der Lähmung stumpfer zu werden scheint und später in einzelnen Fällen fast erloschen ist (so dass man den Kranken lebhaft kneipen kann, ohne dass er Zeichen von Schmerz gibt), so kommen mitunter vor- übergehende Zustände höchster Hyperästhesie der Hautoberfläche vor, bei welchen leise Berührungen die ausgebreitetsten Reflexbewegungen, Convulsionen aller willkührlichen Muskeln erregen, ein Zustand, der mit dem Verhalten der mit Strychnin vergifteten Thiere die grösste Aehnlichkeit zeigt. In einem besonders exquisiten Falle der Art konnten wir diese Hauthyperästhesie in den nächsten Stunden, welche einem Anfalle von Convulsionen folgten, genau beobachten. Nicht selten nemlich kommen bei diesen Kranken unter den Erscheinungen heftiger Kopfcongestion plötzliche Anfälle von Bewusst- losigkeit, gewöhnlich mit ausgebreiteten, Epilepsieähnlichen Convul- sionen vor, welche meist, wenn einmal eingetreten, sich häufig wie- derholen, in denen der Kranke zuweilen stirbt, von denen er sich aber gewöhnlich wieder bald erholt. Wenn diess auch geschieht, so bemerkt man doch in der Regel nach jedem solchen Anfall eine Zunahme der Paralyse und der psychischen Abstumpfung; nicht selten bleiben auch nach dem Anfall Contracturen einzelner Glieder, des Vorderarms, der Finger oder der Beine zurück. §. 131. Die psychischen Störungen bei diesen Kranken haben im Anfang der Paralyse nicht immer denselben Character. Die Lähmung kann — und diess ist das seltenste — bei melancholischen Irren eintreten *) und der Kranke die melancholische Grundlage des Deliriums längere Zeit festhalten. Bei weitem häufiger fällt der Beginn der Paralyse mit einem psychischen Exaltationszustande zusammen, mit dem vagen *) S. z. B. bei Calmeil, de la paralysie considerée chez les aliénés. Par. 1826. p. 328.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/297>, abgerufen am 28.03.2024.