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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Zweiter Abschnitt.
Pathologische Anatomie der übrigen Organe.
§. 148.

Wir haben uns hier nur auf die in practischer Beziehung wich-
tigsten oder theoretisch interessantesten pathologischen Veränderungen
der übrigen Organe zu beschränken, einmal, insofern sie am häufigsten
zu Todesursachen bei Irren werden und überhaupt grösseren clinischen
Werth haben, andrerseits so weit sie überhaupt in einer gewissen
Regelmässigkeit mit jenen Gehirnkrankheiten zusammentreffen, oder
so weit sie mit diesen in einem einsichtlichen pathologischen Zu-
sammenhange stehen. So wichtig alle solche Veränderungen dem
Arzte sein müssen, so mannigfaltige Missverständnisse sind auch
durch ihre einseitige Hervorhebung der Theorie des Irreseins erwachsen.
Hatte man irgend einmal gelesen, dass bei einem Irren sich eine
kranke Milz oder eine verhärtete Leber gefunden, so sollten nur derlei
Erkrankungen ohne Weiteres als "körperliche Bedingungen der Geistes-
krankheiten" angenommen werden, und es ward aus allenthalben
zusammengerafften Notizen eine Lehre von der "psychischen Bedeutung"
der Eingeweide aufgebaut, welche von der Beobachtung alle Tage
widerlegt wird. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Geisteskranke
an allen, in jeder Hinsicht gleichen acuten oder chronischen Krank-
heiten sterben können wie die übrigen Menschen, und die nachfol-
genden Bemerkungen können nur zur Ergänzung der betreffenden
§§. der Aetiologie benützt werden.

Eine erste und wichtige, hierher gehörige Frage wäre die, ob
gewisse Blutbeschaffenheiten, wie sie sich aus dem Ansehen
des (während des Lebens gelassenen oder) in der Leiche vorfindigen
Blutes oder aus gewissen Erscheinungen am Lebenden mit Sicherheit
erschliessen lassen, bei Geisteskranken besonders häufig vorkommen --,
eine an sich nicht unwahrscheinliche Vermuthung, da nach neueren
Untersuchungen manche acute Affectionen des Gehirns und seiner
Häute eine der beim Typhus beobachteten Crase ganz ähnliche Blut-
beschaffenheit zu erzeugen vermögen *). Allein auch hierüber darf
man bei der Mehrzahl der Irrenärzte kaum zerstreute und dürftige
Notizen erwarten, da so viele dieser Aerzte über den Discussionen

*) Dickflüssiges, klebriges, schwarzrothes Blut, kleiner, lockerer Blutkuchen
etc. Engel, Zeitschr. d. k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. I. 9. p. 227.
Zweiter Abschnitt.
Pathologische Anatomie der übrigen Organe.
§. 148.

Wir haben uns hier nur auf die in practischer Beziehung wich-
tigsten oder theoretisch interessantesten pathologischen Veränderungen
der übrigen Organe zu beschränken, einmal, insofern sie am häufigsten
zu Todesursachen bei Irren werden und überhaupt grösseren clinischen
Werth haben, andrerseits so weit sie überhaupt in einer gewissen
Regelmässigkeit mit jenen Gehirnkrankheiten zusammentreffen, oder
so weit sie mit diesen in einem einsichtlichen pathologischen Zu-
sammenhange stehen. So wichtig alle solche Veränderungen dem
Arzte sein müssen, so mannigfaltige Missverständnisse sind auch
durch ihre einseitige Hervorhebung der Theorie des Irreseins erwachsen.
Hatte man irgend einmal gelesen, dass bei einem Irren sich eine
kranke Milz oder eine verhärtete Leber gefunden, so sollten nur derlei
Erkrankungen ohne Weiteres als „körperliche Bedingungen der Geistes-
krankheiten“ angenommen werden, und es ward aus allenthalben
zusammengerafften Notizen eine Lehre von der „psychischen Bedeutung“
der Eingeweide aufgebaut, welche von der Beobachtung alle Tage
widerlegt wird. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Geisteskranke
an allen, in jeder Hinsicht gleichen acuten oder chronischen Krank-
heiten sterben können wie die übrigen Menschen, und die nachfol-
genden Bemerkungen können nur zur Ergänzung der betreffenden
§§. der Aetiologie benützt werden.

Eine erste und wichtige, hierher gehörige Frage wäre die, ob
gewisse Blutbeschaffenheiten, wie sie sich aus dem Ansehen
des (während des Lebens gelassenen oder) in der Leiche vorfindigen
Blutes oder aus gewissen Erscheinungen am Lebenden mit Sicherheit
erschliessen lassen, bei Geisteskranken besonders häufig vorkommen —,
eine an sich nicht unwahrscheinliche Vermuthung, da nach neueren
Untersuchungen manche acute Affectionen des Gehirns und seiner
Häute eine der beim Typhus beobachteten Crase ganz ähnliche Blut-
beschaffenheit zu erzeugen vermögen *). Allein auch hierüber darf
man bei der Mehrzahl der Irrenärzte kaum zerstreute und dürftige
Notizen erwarten, da so viele dieser Aerzte über den Discussionen

*) Dickflüssiges, klebriges, schwarzrothes Blut, kleiner, lockerer Blutkuchen
etc. Engel, Zeitschr. d. k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. I. 9. p. 227.
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[320/0334] Zweiter Abschnitt. Pathologische Anatomie der übrigen Organe. §. 148. Wir haben uns hier nur auf die in practischer Beziehung wich- tigsten oder theoretisch interessantesten pathologischen Veränderungen der übrigen Organe zu beschränken, einmal, insofern sie am häufigsten zu Todesursachen bei Irren werden und überhaupt grösseren clinischen Werth haben, andrerseits so weit sie überhaupt in einer gewissen Regelmässigkeit mit jenen Gehirnkrankheiten zusammentreffen, oder so weit sie mit diesen in einem einsichtlichen pathologischen Zu- sammenhange stehen. So wichtig alle solche Veränderungen dem Arzte sein müssen, so mannigfaltige Missverständnisse sind auch durch ihre einseitige Hervorhebung der Theorie des Irreseins erwachsen. Hatte man irgend einmal gelesen, dass bei einem Irren sich eine kranke Milz oder eine verhärtete Leber gefunden, so sollten nur derlei Erkrankungen ohne Weiteres als „körperliche Bedingungen der Geistes- krankheiten“ angenommen werden, und es ward aus allenthalben zusammengerafften Notizen eine Lehre von der „psychischen Bedeutung“ der Eingeweide aufgebaut, welche von der Beobachtung alle Tage widerlegt wird. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass Geisteskranke an allen, in jeder Hinsicht gleichen acuten oder chronischen Krank- heiten sterben können wie die übrigen Menschen, und die nachfol- genden Bemerkungen können nur zur Ergänzung der betreffenden §§. der Aetiologie benützt werden. Eine erste und wichtige, hierher gehörige Frage wäre die, ob gewisse Blutbeschaffenheiten, wie sie sich aus dem Ansehen des (während des Lebens gelassenen oder) in der Leiche vorfindigen Blutes oder aus gewissen Erscheinungen am Lebenden mit Sicherheit erschliessen lassen, bei Geisteskranken besonders häufig vorkommen —, eine an sich nicht unwahrscheinliche Vermuthung, da nach neueren Untersuchungen manche acute Affectionen des Gehirns und seiner Häute eine der beim Typhus beobachteten Crase ganz ähnliche Blut- beschaffenheit zu erzeugen vermögen *). Allein auch hierüber darf man bei der Mehrzahl der Irrenärzte kaum zerstreute und dürftige Notizen erwarten, da so viele dieser Aerzte über den Discussionen *) Dickflüssiges, klebriges, schwarzrothes Blut, kleiner, lockerer Blutkuchen etc. Engel, Zeitschr. d. k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien. I. 9. p. 227.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/334>, abgerufen am 28.03.2024.