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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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der Brustorgane.
Einzige, was die Diagnose sichert, ist natürlich die Anwesenheit der
physicalischen Zeichen. Daher ist es, sobald überhaupt ein Geistes-
kranker Zeichen eines neuen Unwohlseins gibt, den Appetit verliert,
Durst, Zungenbeleg und eine grössere Pulsfrequenz zeigt, immer die
erste, unverbrüchliche Regel, die Brust genau durch Percussion und
Auscultation zu untersuchen. -- Der Verlauf der Pneumonie ist,
besonders bei den Paralytischen, gewöhnlich rapid und die Therapie
noch unglücklicher, als bei der Pneumonie der Greise. -- In anato-
mischer Beziehung haben diese Fälle natürlich nichts Eigenthümliches.

Die Lungengangrän, die man auch schon zuweilen in Ge-
fängnissen plötzlich in grösserer Häufigkeit vorkommen sah, (S. Mosing,
Lungenbrand als Epidemie. Oestreich. Jahrb. April und Mai 1844.)
ist in ihrem Vorkommen bei Geisteskranken erst seit Guislains Arbeiten
näher gekannt und gewürdigt. (Memoire sur la gangrene des poumons
chez les alienes. Gaz. medic. 1836. und in den Phrenopathieen.)
Guislain beobachtete die Lungengangrän fast ausschliesslich bei Kranken,
welche die Nahrung verweigert hatten und an Inanition gestorben
waren, bei diesen aber auch sehr häufig (9mal unter 13 solchen
Todesfällen). Er hält bei diesen Kranken, deren Einige 20 bis 60
Tage, fast blos Wasser trinkend, gelebt hatten, die Blutverarmung,
eine Art scorbutischen Zustands, für den primitiven Zustand und
auch für die eigentliche Ursache der Gangrän; eine dunkle, ziegel-
rothe, braunrothe, später cyanotische Färbung der Wangen erwies
sich ihm als ein wichtiges Zeichen während des Lebens. Es waren
meist Kranke, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Sensibilität,
Gleichgültigkeit gegen Kälte, Hitze und Schmerz zeigten, lange in
die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln u. dergl. Weder Brust-
schmerz, noch Husten, noch Dyspnoe oder Fieber waren vorhanden,
der Puls war meist etwas verlangsamt -- andere Beobachter (Thore)
fanden ihn beschleunigt -- und die Hauttemperatur gesunken; während
doch bei Nicht-Irren der Lungenbrand gewöhnlich mit sehr heftigen
Symptomen verläuft. Es scheint sowohl der umschriebene als der
diffuse Brand vorzukommen; 7mal in den 9 Fällen Guislains war die
linke Lunge ergriffen; in keinem Falle war die, dem Symptom der
Nahrungsverweigerung von Einzelnen vindicirte Gastritis vorhanden. --
Auch andere Beobachter haben die Lungengangrän gefunden; in 2
Fällen von Ferrus (Gazette medic. 1836. p. 715) war daraus Pneumo-
thorax entstanden; Calmeil, Webster und Thore sahen sie gleichfalls.
So viel geht aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervor, dass
die Krankheit durchaus nicht auf die Fälle von Nahrungsverweigerung

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der Brustorgane.
Einzige, was die Diagnose sichert, ist natürlich die Anwesenheit der
physicalischen Zeichen. Daher ist es, sobald überhaupt ein Geistes-
kranker Zeichen eines neuen Unwohlseins gibt, den Appetit verliert,
Durst, Zungenbeleg und eine grössere Pulsfrequenz zeigt, immer die
erste, unverbrüchliche Regel, die Brust genau durch Percussion und
Auscultation zu untersuchen. — Der Verlauf der Pneumonie ist,
besonders bei den Paralytischen, gewöhnlich rapid und die Therapie
noch unglücklicher, als bei der Pneumonie der Greise. — In anato-
mischer Beziehung haben diese Fälle natürlich nichts Eigenthümliches.

Die Lungengangrän, die man auch schon zuweilen in Ge-
fängnissen plötzlich in grösserer Häufigkeit vorkommen sah, (S. Mosing,
Lungenbrand als Epidemie. Oestreich. Jahrb. April und Mai 1844.)
ist in ihrem Vorkommen bei Geisteskranken erst seit Guislains Arbeiten
näher gekannt und gewürdigt. (Mémoire sur la gangrène des poumons
chez les aliénés. Gaz. medic. 1836. und in den Phrenopathieen.)
Guislain beobachtete die Lungengangrän fast ausschliesslich bei Kranken,
welche die Nahrung verweigert hatten und an Inanition gestorben
waren, bei diesen aber auch sehr häufig (9mal unter 13 solchen
Todesfällen). Er hält bei diesen Kranken, deren Einige 20 bis 60
Tage, fast blos Wasser trinkend, gelebt hatten, die Blutverarmung,
eine Art scorbutischen Zustands, für den primitiven Zustand und
auch für die eigentliche Ursache der Gangrän; eine dunkle, ziegel-
rothe, braunrothe, später cyanotische Färbung der Wangen erwies
sich ihm als ein wichtiges Zeichen während des Lebens. Es waren
meist Kranke, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Sensibilität,
Gleichgültigkeit gegen Kälte, Hitze und Schmerz zeigten, lange in
die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln u. dergl. Weder Brust-
schmerz, noch Husten, noch Dyspnoe oder Fieber waren vorhanden,
der Puls war meist etwas verlangsamt — andere Beobachter (Thore)
fanden ihn beschleunigt — und die Hauttemperatur gesunken; während
doch bei Nicht-Irren der Lungenbrand gewöhnlich mit sehr heftigen
Symptomen verläuft. Es scheint sowohl der umschriebene als der
diffuse Brand vorzukommen; 7mal in den 9 Fällen Guislains war die
linke Lunge ergriffen; in keinem Falle war die, dem Symptom der
Nahrungsverweigerung von Einzelnen vindicirte Gastritis vorhanden. —
Auch andere Beobachter haben die Lungengangrän gefunden; in 2
Fällen von Ferrus (Gazette medic. 1836. p. 715) war daraus Pneumo-
thorax entstanden; Calmeil, Webster und Thore sahen sie gleichfalls.
So viel geht aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervor, dass
die Krankheit durchaus nicht auf die Fälle von Nahrungsverweigerung

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[323/0337] der Brustorgane. Einzige, was die Diagnose sichert, ist natürlich die Anwesenheit der physicalischen Zeichen. Daher ist es, sobald überhaupt ein Geistes- kranker Zeichen eines neuen Unwohlseins gibt, den Appetit verliert, Durst, Zungenbeleg und eine grössere Pulsfrequenz zeigt, immer die erste, unverbrüchliche Regel, die Brust genau durch Percussion und Auscultation zu untersuchen. — Der Verlauf der Pneumonie ist, besonders bei den Paralytischen, gewöhnlich rapid und die Therapie noch unglücklicher, als bei der Pneumonie der Greise. — In anato- mischer Beziehung haben diese Fälle natürlich nichts Eigenthümliches. Die Lungengangrän, die man auch schon zuweilen in Ge- fängnissen plötzlich in grösserer Häufigkeit vorkommen sah, (S. Mosing, Lungenbrand als Epidemie. Oestreich. Jahrb. April und Mai 1844.) ist in ihrem Vorkommen bei Geisteskranken erst seit Guislains Arbeiten näher gekannt und gewürdigt. (Mémoire sur la gangrène des poumons chez les aliénés. Gaz. medic. 1836. und in den Phrenopathieen.) Guislain beobachtete die Lungengangrän fast ausschliesslich bei Kranken, welche die Nahrung verweigert hatten und an Inanition gestorben waren, bei diesen aber auch sehr häufig (9mal unter 13 solchen Todesfällen). Er hält bei diesen Kranken, deren Einige 20 bis 60 Tage, fast blos Wasser trinkend, gelebt hatten, die Blutverarmung, eine Art scorbutischen Zustands, für den primitiven Zustand und auch für die eigentliche Ursache der Gangrän; eine dunkle, ziegel- rothe, braunrothe, später cyanotische Färbung der Wangen erwies sich ihm als ein wichtiges Zeichen während des Lebens. Es waren meist Kranke, welche eine Herabsetzung der allgemeinen Sensibilität, Gleichgültigkeit gegen Kälte, Hitze und Schmerz zeigten, lange in die Sonne sehen konnten, ohne zu blinzeln u. dergl. Weder Brust- schmerz, noch Husten, noch Dyspnoe oder Fieber waren vorhanden, der Puls war meist etwas verlangsamt — andere Beobachter (Thore) fanden ihn beschleunigt — und die Hauttemperatur gesunken; während doch bei Nicht-Irren der Lungenbrand gewöhnlich mit sehr heftigen Symptomen verläuft. Es scheint sowohl der umschriebene als der diffuse Brand vorzukommen; 7mal in den 9 Fällen Guislains war die linke Lunge ergriffen; in keinem Falle war die, dem Symptom der Nahrungsverweigerung von Einzelnen vindicirte Gastritis vorhanden. — Auch andere Beobachter haben die Lungengangrän gefunden; in 2 Fällen von Ferrus (Gazette medic. 1836. p. 715) war daraus Pneumo- thorax entstanden; Calmeil, Webster und Thore sahen sie gleichfalls. So viel geht aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervor, dass die Krankheit durchaus nicht auf die Fälle von Nahrungsverweigerung 21 *

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/337>, abgerufen am 25.04.2024.