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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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und somatischen Behandlung.
und verkehrte Gedankenspiele mit Clystierspritzen bekämpft werden?"
Die Somatiker dagegen machten für sich den Einfluss der körperli-
chen Zustände auf das geistige Leben geltend; sie beriefen sich auf
ihre Krankheitsgeschichten, in denen ja ganz deutlich durch Digitalis,
Campher etc. das Irresein geheilt worden sei, und wie meistens in
solchen Fallen, sollte sich die Wissenschaft, die doch vor Allem auf
Einheit und Consequenz der Principien dringt, endlich mit der ecclec-
tischen Concession beider Partheien begnügen, dass eben die eine oder
die andere Seite der Therapie für einzelne dringlichere Zufälle zu
einer den hauptsächlichen Heilplan unterstützenden Hülfsbehandlung
werden müsse. So bliebe bei den Einen der psychischen, bei den
Andern der somatischen Therapie neben der Consequenz des grund-
sätzlichen Heilplans nur eine untergeordnete und dürftige Rolle; zum
Verständniss der nothwendigen gleichen Berechtigung beider aber
dient vor Allem die Erinnerung, dass alle normalen und anomalen
psychischen Acte cerebrale Processe sind, und dass die Gehirnthätigkeit
ebenso gut direct durch unmittelbare Einwirkung, durch Hervorrufen
von Stimmungen, Gemüthsbewegungen und Gedanken, als durch Ver-
minderung der Blutmenge im Schädel, durch eine veränderte Ernährung
des Gehirns, durch Narcotica und Reizmittel modificirt werden kann.
Dass dem Irresein, wie den übrigen Gehirnkrankheiten empirisch
erprobte Arzneimittel entgegengesetzt werden, bedarf keiner Recht-
fertigung; der häufige Erfolg der psychischen Behandlung auch da,
wo sichtbare leibliche Störungen zur Entstehung des Irreseins con-
currirten, erklärt sich aus dem Einfluss des Gehirns auf die übrigen
organischen Processe, der uns in der directen Hervorrufung von
Seelenzuständen auch eines der wichtigsten Mittel an die Hand gibt,
indirect Störungen des leiblichen Lebens, der Circulation, der Ver-
dauung etc. günstig zu modificiren. Schwere Desorganisation des
Gehirns (z. B. Blödsinn mit Paralyse) macht allerdings alles psychische
Einwirken unmöglich; aber wir wissen, dass das Irresein im Anfang
sehr häufig in nur functionellen Abweichungen besteht, und auch
leichtere anatomische Veränderungen machen die Erfolge psychischer
Behandlung durchaus nicht unmöglich, denn die Organe sind fähig,
sich nach den ihnen angemutheten Functionen bis zu einem gewissen
Grade zu accommodiren und die neuere Zeit hat in manchen glück-
lichen Heilversuchen am Idiotismus gezeigt, wie auch bei entschieden
mangelhaftem Gehirn eine geschickte Benutzung der vorhandenen
Ressourcen noch eine relativ schöne Entwicklung des Geistes mög-
lich macht. -- Auf diesem Standpunkte hat es einen Sinn, von einer

und somatischen Behandlung.
und verkehrte Gedankenspiele mit Clystierspritzen bekämpft werden?“
Die Somatiker dagegen machten für sich den Einfluss der körperli-
chen Zustände auf das geistige Leben geltend; sie beriefen sich auf
ihre Krankheitsgeschichten, in denen ja ganz deutlich durch Digitalis,
Campher etc. das Irresein geheilt worden sei, und wie meistens in
solchen Fallen, sollte sich die Wissenschaft, die doch vor Allem auf
Einheit und Consequenz der Principien dringt, endlich mit der ecclec-
tischen Concession beider Partheien begnügen, dass eben die eine oder
die andere Seite der Therapie für einzelne dringlichere Zufälle zu
einer den hauptsächlichen Heilplan unterstützenden Hülfsbehandlung
werden müsse. So bliebe bei den Einen der psychischen, bei den
Andern der somatischen Therapie neben der Consequenz des grund-
sätzlichen Heilplans nur eine untergeordnete und dürftige Rolle; zum
Verständniss der nothwendigen gleichen Berechtigung beider aber
dient vor Allem die Erinnerung, dass alle normalen und anomalen
psychischen Acte cerebrale Processe sind, und dass die Gehirnthätigkeit
ebenso gut direct durch unmittelbare Einwirkung, durch Hervorrufen
von Stimmungen, Gemüthsbewegungen und Gedanken, als durch Ver-
minderung der Blutmenge im Schädel, durch eine veränderte Ernährung
des Gehirns, durch Narcotica und Reizmittel modificirt werden kann.
Dass dem Irresein, wie den übrigen Gehirnkrankheiten empirisch
erprobte Arzneimittel entgegengesetzt werden, bedarf keiner Recht-
fertigung; der häufige Erfolg der psychischen Behandlung auch da,
wo sichtbare leibliche Störungen zur Entstehung des Irreseins con-
currirten, erklärt sich aus dem Einfluss des Gehirns auf die übrigen
organischen Processe, der uns in der directen Hervorrufung von
Seelenzuständen auch eines der wichtigsten Mittel an die Hand gibt,
indirect Störungen des leiblichen Lebens, der Circulation, der Ver-
dauung etc. günstig zu modificiren. Schwere Desorganisation des
Gehirns (z. B. Blödsinn mit Paralyse) macht allerdings alles psychische
Einwirken unmöglich; aber wir wissen, dass das Irresein im Anfang
sehr häufig in nur functionellen Abweichungen besteht, und auch
leichtere anatomische Veränderungen machen die Erfolge psychischer
Behandlung durchaus nicht unmöglich, denn die Organe sind fähig,
sich nach den ihnen angemutheten Functionen bis zu einem gewissen
Grade zu accommodiren und die neuere Zeit hat in manchen glück-
lichen Heilversuchen am Idiotismus gezeigt, wie auch bei entschieden
mangelhaftem Gehirn eine geschickte Benutzung der vorhandenen
Ressourçen noch eine relativ schöne Entwicklung des Geistes mög-
lich macht. — Auf diesem Standpunkte hat es einen Sinn, von einer

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[343/0357] und somatischen Behandlung. und verkehrte Gedankenspiele mit Clystierspritzen bekämpft werden?“ Die Somatiker dagegen machten für sich den Einfluss der körperli- chen Zustände auf das geistige Leben geltend; sie beriefen sich auf ihre Krankheitsgeschichten, in denen ja ganz deutlich durch Digitalis, Campher etc. das Irresein geheilt worden sei, und wie meistens in solchen Fallen, sollte sich die Wissenschaft, die doch vor Allem auf Einheit und Consequenz der Principien dringt, endlich mit der ecclec- tischen Concession beider Partheien begnügen, dass eben die eine oder die andere Seite der Therapie für einzelne dringlichere Zufälle zu einer den hauptsächlichen Heilplan unterstützenden Hülfsbehandlung werden müsse. So bliebe bei den Einen der psychischen, bei den Andern der somatischen Therapie neben der Consequenz des grund- sätzlichen Heilplans nur eine untergeordnete und dürftige Rolle; zum Verständniss der nothwendigen gleichen Berechtigung beider aber dient vor Allem die Erinnerung, dass alle normalen und anomalen psychischen Acte cerebrale Processe sind, und dass die Gehirnthätigkeit ebenso gut direct durch unmittelbare Einwirkung, durch Hervorrufen von Stimmungen, Gemüthsbewegungen und Gedanken, als durch Ver- minderung der Blutmenge im Schädel, durch eine veränderte Ernährung des Gehirns, durch Narcotica und Reizmittel modificirt werden kann. Dass dem Irresein, wie den übrigen Gehirnkrankheiten empirisch erprobte Arzneimittel entgegengesetzt werden, bedarf keiner Recht- fertigung; der häufige Erfolg der psychischen Behandlung auch da, wo sichtbare leibliche Störungen zur Entstehung des Irreseins con- currirten, erklärt sich aus dem Einfluss des Gehirns auf die übrigen organischen Processe, der uns in der directen Hervorrufung von Seelenzuständen auch eines der wichtigsten Mittel an die Hand gibt, indirect Störungen des leiblichen Lebens, der Circulation, der Ver- dauung etc. günstig zu modificiren. Schwere Desorganisation des Gehirns (z. B. Blödsinn mit Paralyse) macht allerdings alles psychische Einwirken unmöglich; aber wir wissen, dass das Irresein im Anfang sehr häufig in nur functionellen Abweichungen besteht, und auch leichtere anatomische Veränderungen machen die Erfolge psychischer Behandlung durchaus nicht unmöglich, denn die Organe sind fähig, sich nach den ihnen angemutheten Functionen bis zu einem gewissen Grade zu accommodiren und die neuere Zeit hat in manchen glück- lichen Heilversuchen am Idiotismus gezeigt, wie auch bei entschieden mangelhaftem Gehirn eine geschickte Benutzung der vorhandenen Ressourçen noch eine relativ schöne Entwicklung des Geistes mög- lich macht. — Auf diesem Standpunkte hat es einen Sinn, von einer

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/357>, abgerufen am 23.04.2024.