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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Psychische Mittel. Arbeit.
gungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der
Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Beim Weibe
sind andere Interessen rege zu erhalten als beim Manne; bei Ein-
zelnen ist alles gesunde Denken und Streben unzertrennlich mit den
äusseren Beschäftigungen ihres Lebensberufes verbunden; mancher
Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in
den Tönen seines Instruments u. dgl. den ganzen Umfang und die
ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden. Ebenso ver-
schieden sind die Gemüthsinteressen; immer aber misslingt es, dem
Kranken solche aufzwingen zu wollen, welche keine Basis, keine
Stützen und Hülfen in den Vorstellungen und Bestrebungen seines
gesunden Lebens haben; dem Frivolen z. B. würde jetzt während
der Krankheit religiöser Zuspruch so wenig taugen, als dem Unmu-
sikalischen eine zwangsweise Beschäftigung mit Musik. Nur da ist
von diesem Grundsatze der sorgfältigsten Erhaltung und Stärkung der
ganzen früheren Persönlichkeit abzugehen, wo eben entschiedene
Characterfehler, welche längst das Ich beherrschten, wesentlich zur
Entstehung der Krankheit beitrugen. In solchen hie und da vorkom-
menden Fällen, wo das Irresein als endliche Consequenz eines in
Schlechtigkeit missbrauchten oder in Thorheit vergeudeten Lebens sich
darstellt, könnte freilich nur von einer völligen Umänderung, von
dem Anfange einer ganz neuen geistigen Persönlichkeit Heil erwartet
werden; allein Jeder weiss, wie knapp hiezu unsere Mittel sind, wie
schwer eine solche Restitutio in integrum ist, und wie schlimm und
im besten Falle, wie sehr einem frühen Rückfalle ausgesetzt solche
Fälle sind. -- Alles, was die Anhänglichkeit an das gesunde vergan-
gene Leben, seien es Familienbande, die alten Beschäftigungsweisen
u. dergl. erhält, dient zur Kräftigung des Ich, und die unzähligen
Modificationen in den Mitteln zur Förderung der gesunden Vorstel-
lungskreise (Correspondenz, Besuche etc.) müssen eben der Einsicht
und dem Tacte des Arztes überlassen werden.

§. 178.

Unter den einzelnen psychischen Mitteln scheint uns die Arbeit
das erste und wichtigste zu sein. In gesunder Thätigkeit findet der einge-
borene Drang nach Aeusserung und Entäusserung des Geistes in der ob-
jectiven Welt seine beste Befriedigung; indem sich Denken und Streben
in die Gestaltung eines Stoffes versenken, wird der Geist von leerer
Sehnsucht zurückgeführt und von den Illusionen der Phantasie abge-
zogen; das Gefühl des Gelingens öffnet wieder den Zugang zu

Psychische Mittel. Arbeit.
gungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der
Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Beim Weibe
sind andere Interessen rege zu erhalten als beim Manne; bei Ein-
zelnen ist alles gesunde Denken und Streben unzertrennlich mit den
äusseren Beschäftigungen ihres Lebensberufes verbunden; mancher
Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in
den Tönen seines Instruments u. dgl. den ganzen Umfang und die
ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden. Ebenso ver-
schieden sind die Gemüthsinteressen; immer aber misslingt es, dem
Kranken solche aufzwingen zu wollen, welche keine Basis, keine
Stützen und Hülfen in den Vorstellungen und Bestrebungen seines
gesunden Lebens haben; dem Frivolen z. B. würde jetzt während
der Krankheit religiöser Zuspruch so wenig taugen, als dem Unmu-
sikalischen eine zwangsweise Beschäftigung mit Musik. Nur da ist
von diesem Grundsatze der sorgfältigsten Erhaltung und Stärkung der
ganzen früheren Persönlichkeit abzugehen, wo eben entschiedene
Characterfehler, welche längst das Ich beherrschten, wesentlich zur
Entstehung der Krankheit beitrugen. In solchen hie und da vorkom-
menden Fällen, wo das Irresein als endliche Consequenz eines in
Schlechtigkeit missbrauchten oder in Thorheit vergeudeten Lebens sich
darstellt, könnte freilich nur von einer völligen Umänderung, von
dem Anfange einer ganz neuen geistigen Persönlichkeit Heil erwartet
werden; allein Jeder weiss, wie knapp hiezu unsere Mittel sind, wie
schwer eine solche Restitutio in integrum ist, und wie schlimm und
im besten Falle, wie sehr einem frühen Rückfalle ausgesetzt solche
Fälle sind. — Alles, was die Anhänglichkeit an das gesunde vergan-
gene Leben, seien es Familienbande, die alten Beschäftigungsweisen
u. dergl. erhält, dient zur Kräftigung des Ich, und die unzähligen
Modificationen in den Mitteln zur Förderung der gesunden Vorstel-
lungskreise (Correspondenz, Besuche etc.) müssen eben der Einsicht
und dem Tacte des Arztes überlassen werden.

§. 178.

Unter den einzelnen psychischen Mitteln scheint uns die Arbeit
das erste und wichtigste zu sein. In gesunder Thätigkeit findet der einge-
borene Drang nach Aeusserung und Entäusserung des Geistes in der ob-
jectiven Welt seine beste Befriedigung; indem sich Denken und Streben
in die Gestaltung eines Stoffes versenken, wird der Geist von leerer
Sehnsucht zurückgeführt und von den Illusionen der Phantasie abge-
zogen; das Gefühl des Gelingens öffnet wieder den Zugang zu

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[368/0382] Psychische Mittel. Arbeit. gungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Beim Weibe sind andere Interessen rege zu erhalten als beim Manne; bei Ein- zelnen ist alles gesunde Denken und Streben unzertrennlich mit den äusseren Beschäftigungen ihres Lebensberufes verbunden; mancher Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in den Tönen seines Instruments u. dgl. den ganzen Umfang und die ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden. Ebenso ver- schieden sind die Gemüthsinteressen; immer aber misslingt es, dem Kranken solche aufzwingen zu wollen, welche keine Basis, keine Stützen und Hülfen in den Vorstellungen und Bestrebungen seines gesunden Lebens haben; dem Frivolen z. B. würde jetzt während der Krankheit religiöser Zuspruch so wenig taugen, als dem Unmu- sikalischen eine zwangsweise Beschäftigung mit Musik. Nur da ist von diesem Grundsatze der sorgfältigsten Erhaltung und Stärkung der ganzen früheren Persönlichkeit abzugehen, wo eben entschiedene Characterfehler, welche längst das Ich beherrschten, wesentlich zur Entstehung der Krankheit beitrugen. In solchen hie und da vorkom- menden Fällen, wo das Irresein als endliche Consequenz eines in Schlechtigkeit missbrauchten oder in Thorheit vergeudeten Lebens sich darstellt, könnte freilich nur von einer völligen Umänderung, von dem Anfange einer ganz neuen geistigen Persönlichkeit Heil erwartet werden; allein Jeder weiss, wie knapp hiezu unsere Mittel sind, wie schwer eine solche Restitutio in integrum ist, und wie schlimm und im besten Falle, wie sehr einem frühen Rückfalle ausgesetzt solche Fälle sind. — Alles, was die Anhänglichkeit an das gesunde vergan- gene Leben, seien es Familienbande, die alten Beschäftigungsweisen u. dergl. erhält, dient zur Kräftigung des Ich, und die unzähligen Modificationen in den Mitteln zur Förderung der gesunden Vorstel- lungskreise (Correspondenz, Besuche etc.) müssen eben der Einsicht und dem Tacte des Arztes überlassen werden. §. 178. Unter den einzelnen psychischen Mitteln scheint uns die Arbeit das erste und wichtigste zu sein. In gesunder Thätigkeit findet der einge- borene Drang nach Aeusserung und Entäusserung des Geistes in der ob- jectiven Welt seine beste Befriedigung; indem sich Denken und Streben in die Gestaltung eines Stoffes versenken, wird der Geist von leerer Sehnsucht zurückgeführt und von den Illusionen der Phantasie abge- zogen; das Gefühl des Gelingens öffnet wieder den Zugang zu

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/382>, abgerufen am 19.04.2024.