Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Arbeit. Unterricht.
expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver-
trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige
Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen
nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft
den Anfang der Genesung. -- Diejenigen Beschäftigungen sind die
besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte
in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten- und Feldgeschäfte,
welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk
sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre
friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na-
turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu-
führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der
künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre
Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech-
sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend
sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei-
len durch das Erlernen eines neuen Metiers, an dem sie Freude ha-
ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. --
Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und
gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel;
die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner
ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im-
mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben;
wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren
aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr
jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe-
cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs
ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss
die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn
Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur
der Müssiggang ist strenge fern zu halten.

§. 178.

An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes-
kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist
bei vielen Kranken der Unterricht. Er wird nicht gegeben, um
die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in
der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern
gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf
würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten.

Griesinger, psych. Krankhtn. 24

Arbeit. Unterricht.
expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver-
trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige
Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen
nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft
den Anfang der Genesung. — Diejenigen Beschäftigungen sind die
besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte
in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten- und Feldgeschäfte,
welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk
sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre
friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na-
turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu-
führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der
künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre
Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech-
sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend
sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei-
len durch das Erlernen eines neuen Métiers, an dem sie Freude ha-
ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. —
Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und
gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel;
die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner
ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im-
mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben;
wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren
aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr
jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe-
cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs
ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss
die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn
Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur
der Müssiggang ist strenge fern zu halten.

§. 178.

An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes-
kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist
bei vielen Kranken der Unterricht. Er wird nicht gegeben, um
die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in
der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern
gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf
würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten.

Griesinger, psych. Krankhtn. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0383" n="369"/><fw place="top" type="header">Arbeit. Unterricht.</fw><lb/>
expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver-<lb/>
trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige<lb/>
Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen<lb/>
nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft<lb/>
den Anfang der Genesung. &#x2014; Diejenigen Beschäftigungen sind die<lb/>
besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte<lb/>
in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten- und Feldgeschäfte,<lb/>
welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk<lb/>
sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre<lb/>
friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na-<lb/>
turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu-<lb/>
führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der<lb/>
künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre<lb/>
Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech-<lb/>
sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend<lb/>
sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei-<lb/>
len durch das Erlernen eines neuen Métiers, an dem sie Freude ha-<lb/>
ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. &#x2014;<lb/>
Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und<lb/>
gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel;<lb/>
die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner<lb/>
ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im-<lb/>
mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben;<lb/>
wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren<lb/>
aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr<lb/>
jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe-<lb/>
cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs<lb/>
ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss<lb/>
die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn<lb/>
Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur<lb/>
der Müssiggang ist strenge fern zu halten.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 178.</head><lb/>
              <p>An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes-<lb/>
kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist<lb/>
bei vielen Kranken der <hi rendition="#g">Unterricht</hi>. Er wird nicht gegeben, um<lb/>
die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in<lb/>
der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern<lb/>
gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf<lb/>
würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Griesinger</hi>, psych. Krankhtn. 24</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[369/0383] Arbeit. Unterricht. expansiven Empfindungen und mit ihm kehren Selbstachtung und Ver- trauen in die eigenen Kräfte zurück. So gilt mit Recht eine stetige Beschäftigung des Kranken, besonders aber sein eigenes Verlangen nach Arbeit für ein Zeichen entschiedener Besserung und bildet oft den Anfang der Genesung. — Diejenigen Beschäftigungen sind die besten, welche mit körperlicher Bewegung, mit stetem Aufenthalte in freier Luft verbunden sind, wie alle Garten- und Feldgeschäfte, welche nicht nur bei den unteren Ständen, deren gewohntes Tagewerk sie früher ausmachten, sondern auch bei den Verfeinerten durch ihre friedlichen und beruhigenden Eindrücke und ihren unmittelbaren Na- turverkehr sich höchst wohlthuend erweisen. Wo solche nicht auszu- führen sind, müssen andere häusliche oder handwerksmässige, der künstlerischen Thätigkeit sich nähernde Beschäftigungsweisen an ihre Stelle treten und nur wenige Kranke, und auch diese nur im Wech- sel mit körperlicher Uebung und Muskelanstrengung sind vorwiegend sitzend und geistig zu beschäftigen; bei chronisch Kranken wird zuwei- len durch das Erlernen eines neuen Métiers, an dem sie Freude ha- ben, die Aufmerksamkeit auf die wohlthätigste Weise neu gefesselt. — Den dürftigen Kranken erfreut ein kleiner Lohn seiner Arbeit und gibt ihm oft bei seiner Genesung den ersten Schutz gegen Mangel; die Kräfte des Reichen werden zum Besten der Anstalt und seiner ärmeren Genossen in Anspruch genommen. Die Arbeit soll, wo im- mer es der Gesundheitszustand gestattet, etwas Methodisches haben; wenn aber einerseits die Kranken von einem unsteten Durchprobiren aller möglichen Beschäftigungsarten abzuhalten sind, so ist noch mehr jeder Character eines fabrikmässigen oder gar eines blos die pe- cuniären Vortheile der Anstalt berücksichtigenden Geschäftsbetriebs ferne zu halten. Die Genesung oder Besserung der Kranken muss die einzige Rücksicht der Arbeit sein; Jedem ist nur das für ihn Passende, und auch nur im rechten Zeitpuncte zuzumuthen und nur der Müssiggang ist strenge fern zu halten. §. 178. An die Arbeit schliesst sich eine gesunde Uebung der Geistes- kräfte auf ihrem eigenen Gebiete an und ein Hauptmittel hiezu ist bei vielen Kranken der Unterricht. Er wird nicht gegeben, um die Wahnvorstellungen des Kranken zu bekämpfen, etwa um ihm in der Physik zu zeigen, wie unausführbar seine Projecte sind, sondern gleichfalls um die Aufmerksamkeit von dem Krankhaften ab und auf würdige, interessante und dem Kranken nützliche Dinge hinzuleiten. Griesinger, psych. Krankhtn. 24

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/383
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/383>, abgerufen am 19.04.2024.