unmöglich seien; die Kranken jener Anstalten sollen seit der Ein- führung des Systems ruhiger, geordneter und heiterer, die Heilungen sollen dauerhafter geworden sein, und im Nothfalle, wird gesagt, könne der Kranke ja eben so gut, als durch mechanische Mittel, durch das Einschreiten von Wärtern beschränkt werden.
Es ist klar, wie diese Gründe zwar gegen den Missbrauch der Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen spre- chen. Mit Recht wurde auch schon in England gegen das System gel- tend gemacht, dass die Beschränkungsmittel zwar immer für seltenere Fälle aufzusparen, dann aber oft allein im Stande seien, einzelne Kranke der Autorität des Arztes zu unterwerfen, und sie für sich selbst und andere unschädlich zu machen. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass man eben bei Anwendung dieser Mittel den Kran- ken selbst weit mehr Freiheit, namentlich Bewegung in frischer Luft, gestatten kann, dass man ohne sie einer unverhältnissmässigen Wärterzahl für einzelne Kranke bedarf, dass eine persönliche Bemeisterung durch Menschenhand weit irritirender wirkt, als ein mechanisches Mittel, dass eben hier Gewaltthätigkeiten von Seiten der Wärter, als ein- gehaltene oder leicht überschrittene Nothwehr, kaum zu vermeiden sind; endlich dass die Einsperrung in eine einsame Zelle, deren sich das System des No-Restraint bedient, eben so gut ein mechanischer Zwang, nur unter einer anderen, keineswegs besseren Form sei.
Es bedarf längerer, umfassenderer Erfahrungen, um diese Frage definitiv zu entscheiden. Jedenfalls wird man es für einen Excess der Philantropie (s. p. 342) halten dürfen, wenn in der Bekleidung des Kranken mit dem Camisole etwas an sich Inhumanes gesehen wird. Zieht man noch in Betracht, wie manche Kranke im Vorge- fühl tobsüchtiger Anfälle selbst um äussere Beschränkung bitten, wie man zuweilen von Anderen hören kann, der Tobanfall wäre leichter und schneller vorübergegangen, wenn ihm mit ernsterer Beschrän- kung entgegengetreten worden wäre, wie wenig von sonstigen, wirk- lich ausführbaren Mitteln uns bei einzelnen zuchtlosen und gefähr- lichen Kranken, ganz besonders aber bei einzelnen Fällen von Selbst- mordtrieb zu Gebote stehen, so wird man die wichtigsten, practischen Bedenken gegen das System nicht unterdrücken können. Und es werden solche Zweifel wesentlich verstärkt durch den Bericht, wel- chen (a. 1843) die mit der Untersuchung der englischen Irrenanstalten beauftragte Commission dem Parlament erstattete, indem dort die un- erfreulichsten Scenen grober Ruhestörung und Gewaltthat aus den
System des No-Restraint.
unmöglich seien; die Kranken jener Anstalten sollen seit der Ein- führung des Systems ruhiger, geordneter und heiterer, die Heilungen sollen dauerhafter geworden sein, und im Nothfalle, wird gesagt, könne der Kranke ja eben so gut, als durch mechanische Mittel, durch das Einschreiten von Wärtern beschränkt werden.
Es ist klar, wie diese Gründe zwar gegen den Missbrauch der Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen spre- chen. Mit Recht wurde auch schon in England gegen das System gel- tend gemacht, dass die Beschränkungsmittel zwar immer für seltenere Fälle aufzusparen, dann aber oft allein im Stande seien, einzelne Kranke der Autorität des Arztes zu unterwerfen, und sie für sich selbst und andere unschädlich zu machen. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass man eben bei Anwendung dieser Mittel den Kran- ken selbst weit mehr Freiheit, namentlich Bewegung in frischer Luft, gestatten kann, dass man ohne sie einer unverhältnissmässigen Wärterzahl für einzelne Kranke bedarf, dass eine persönliche Bemeisterung durch Menschenhand weit irritirender wirkt, als ein mechanisches Mittel, dass eben hier Gewaltthätigkeiten von Seiten der Wärter, als ein- gehaltene oder leicht überschrittene Nothwehr, kaum zu vermeiden sind; endlich dass die Einsperrung in eine einsame Zelle, deren sich das System des No-Restraint bedient, eben so gut ein mechanischer Zwang, nur unter einer anderen, keineswegs besseren Form sei.
Es bedarf längerer, umfassenderer Erfahrungen, um diese Frage definitiv zu entscheiden. Jedenfalls wird man es für einen Excess der Philantropie (s. p. 342) halten dürfen, wenn in der Bekleidung des Kranken mit dem Camisole etwas an sich Inhumanes gesehen wird. Zieht man noch in Betracht, wie manche Kranke im Vorge- fühl tobsüchtiger Anfälle selbst um äussere Beschränkung bitten, wie man zuweilen von Anderen hören kann, der Tobanfall wäre leichter und schneller vorübergegangen, wenn ihm mit ernsterer Beschrän- kung entgegengetreten worden wäre, wie wenig von sonstigen, wirk- lich ausführbaren Mitteln uns bei einzelnen zuchtlosen und gefähr- lichen Kranken, ganz besonders aber bei einzelnen Fällen von Selbst- mordtrieb zu Gebote stehen, so wird man die wichtigsten, practischen Bedenken gegen das System nicht unterdrücken können. Und es werden solche Zweifel wesentlich verstärkt durch den Bericht, wel- chen (a. 1843) die mit der Untersuchung der englischen Irrenanstalten beauftragte Commission dem Parlament erstattete, indem dort die un- erfreulichsten Scenen grober Ruhestörung und Gewaltthat aus den
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System des No-Restraint.
unmöglich seien; die Kranken jener Anstalten sollen seit der Ein-
führung des Systems ruhiger, geordneter und heiterer, die Heilungen
sollen dauerhafter geworden sein, und im Nothfalle, wird gesagt,
könne der Kranke ja eben so gut, als durch mechanische Mittel,
durch das Einschreiten von Wärtern beschränkt werden.
Es ist klar, wie diese Gründe zwar gegen den Missbrauch der
Zwangsmittel, aber noch nicht für ihre Verwerfung in allen Fällen spre-
chen. Mit Recht wurde auch schon in England gegen das System gel-
tend gemacht, dass die Beschränkungsmittel zwar immer für seltenere
Fälle aufzusparen, dann aber oft allein im Stande seien, einzelne
Kranke der Autorität des Arztes zu unterwerfen, und sie für sich
selbst und andere unschädlich zu machen. Mit Recht wurde darauf
hingewiesen, dass man eben bei Anwendung dieser Mittel den Kran-
ken selbst weit mehr Freiheit, namentlich Bewegung in frischer Luft,
gestatten kann, dass man ohne sie einer unverhältnissmässigen Wärterzahl
für einzelne Kranke bedarf, dass eine persönliche Bemeisterung durch
Menschenhand weit irritirender wirkt, als ein mechanisches Mittel,
dass eben hier Gewaltthätigkeiten von Seiten der Wärter, als ein-
gehaltene oder leicht überschrittene Nothwehr, kaum zu vermeiden
sind; endlich dass die Einsperrung in eine einsame Zelle, deren sich
das System des No-Restraint bedient, eben so gut ein mechanischer
Zwang, nur unter einer anderen, keineswegs besseren Form sei.
Es bedarf längerer, umfassenderer Erfahrungen, um diese Frage
definitiv zu entscheiden. Jedenfalls wird man es für einen Excess
der Philantropie (s. p. 342) halten dürfen, wenn in der Bekleidung
des Kranken mit dem Camisole etwas an sich Inhumanes gesehen
wird. Zieht man noch in Betracht, wie manche Kranke im Vorge-
fühl tobsüchtiger Anfälle selbst um äussere Beschränkung bitten, wie
man zuweilen von Anderen hören kann, der Tobanfall wäre leichter
und schneller vorübergegangen, wenn ihm mit ernsterer Beschrän-
kung entgegengetreten worden wäre, wie wenig von sonstigen, wirk-
lich ausführbaren Mitteln uns bei einzelnen zuchtlosen und gefähr-
lichen Kranken, ganz besonders aber bei einzelnen Fällen von Selbst-
mordtrieb zu Gebote stehen, so wird man die wichtigsten, practischen
Bedenken gegen das System nicht unterdrücken können. Und es
werden solche Zweifel wesentlich verstärkt durch den Bericht, wel-
chen (a. 1843) die mit der Untersuchung der englischen Irrenanstalten
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/387>, abgerufen am 25.04.2024.
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