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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Vorstellen und die Empfindung.
Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im
Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen
Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc.
ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle
der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län-
gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun-
gen heraus entwickeln.

Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den
normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen,
die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit
des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un-
geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie
eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem-
pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven
Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari-
sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte,
Hunger) entstehen kann.

Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit
percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist
schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere,
beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un-
lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt,
z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu
begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber
kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an,
ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei-
chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein-
drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn
wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor
etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen
Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz
anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck
der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo
jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und
wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz-
zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz-
zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen.
Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen
sind -- sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus
widrigen psychischen Eindrücken -- da bildet sich allmählig eine

Das Vorstellen und die Empfindung.
Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im
Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen
Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc.
ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle
der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län-
gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun-
gen heraus entwickeln.

Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den
normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen,
die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit
des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un-
geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie
eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem-
pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven
Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari-
sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte,
Hunger) entstehen kann.

Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit
percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist
schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere,
beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un-
lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt,
z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu
begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber
kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an,
ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei-
chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein-
drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn
wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor
etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen
Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz
anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck
der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo
jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und
wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz-
zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz-
zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen.
Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen
sind — sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus
widrigen psychischen Eindrücken — da bildet sich allmählig eine

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[26/0040] Das Vorstellen und die Empfindung. Empfinden oder Vorstellen, sondern nur den Stand der Dinge im Empfinden und Vorstellen im Allgemeinen trifft. So die körperlichen Zustände von allgemeiner Unbehaglichkeit, körperlicher Schwere etc. ohne localisirten Schmerz, so im Vorstellen die objectlosen Gefühle der Beklemmung, der Angst etc., aus denen sich übrigens bei län- gerer Dauer auch wieder einzelne adäquate, schmerzliche Vorstellun- gen heraus entwickeln. Psychischer Schmerz kann durch Alles erregt werden, was den normalen Ablauf und das normale Ineinandergreifen der Vorstellungen, die das Ich repräsentiren (s. §. 25.), stört und damit die Freiheit des Ich beschränkt. Ein Uebermass psychischer Reize, das ein un- geordnetes Gedränge neuer auftretender Vorstellungen weckt, wie eine allzu grosse Entbehrung derselben (Langeweile, geistige Unem- pfänglichkeit) kann unangenehme Gefühle erwecken, wie im sensitiven Nervensystem der Schmerz sowohl durch starke Reize und tumultuari- sche Eingriffe, als durch Entziehung der gewohnten Reize (Kälte, Hunger) entstehen kann. Ob die Störung des normalen Vorstellungsverlaufs insoweit percipirt wird, dass aus ihr psychischer Schmerz entsteht, ist schon nach der Individualität sehr verschieden; eine feinere, beweglichere, geistige Organisation kann da schon grosse Un- lust empfinden, wo der stumpfere Kopf durchaus unberührt bleibt, z. B. wenn es nicht gelingen will, die Gründe einer Thatsache zu begreifen, ein vorliegendes Problem zu lösen. Namentlich viel aber kommt auf den momentanen Reizzustand des Vorstellungsorgans an, ob das Vorstellen von Schmerz begleitet wird, oder nicht. Die glei- chen Dinge machen zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Ein- drücke, andere, wenn wir ein Glas Wein getrunken haben, wenn wir aus der Oper nach Hause gekommen sind, wenn uns kurz zuvor etwas Unangenehmes begegnet ist etc. Wie der im neuralgischen Irritationszustande befindliche Nerv auf die äussere Berührung ganz anders reagirt, als sonst, und schon durch den gelindesten Eindruck der Schmerz in ihm geweckt wird, so gibt es Gehirnzustände, wo jeder psychische Reiz auch einen psychischen Schmerz erweckt und wo alles Vorstellen schmerzhaft geworden ist. Der jeweilige Reiz- zustand des Organs ist aber ein Product aus allen früheren Reiz- zuständen in Verbindung mit den eben jetzt einwirkenden Reizen. Wo viele und tiefere psychische Schmerzzustände vorausgegangen sind — sei es nun aus originärer Disposition zu solchen oder aus widrigen psychischen Eindrücken — da bildet sich allmählig eine

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/40>, abgerufen am 16.04.2024.