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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Vorstellen und die Bewegung.
welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und
präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die
dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in
verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden
oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich
die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc-
tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise
ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen
eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische,
auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da-
durch zum Streben.

Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art,
dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von
diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be-
wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen
geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren
zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.).
In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke,
des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich
Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor-
stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen
(Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald,
wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens
diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper-
hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat.); auch verschiedene Mischungen von
beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs-
gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten
Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt
werden müssen.

§. 20.

Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen
ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei-
stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen
in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in
Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge-
meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen,
dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga-
nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des
psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein-
richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht
percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck-
mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste

Das Vorstellen und die Bewegung.
welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und
präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die
dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in
verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden
oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich
die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc-
tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise
ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen
eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische,
auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da-
durch zum Streben.

Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art,
dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von
diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be-
wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen
geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren
zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.).
In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke,
des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich
Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor-
stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen
(Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald,
wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens
diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper-
hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat.); auch verschiedene Mischungen von
beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs-
gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten
Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt
werden müssen.

§. 20.

Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen
ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei-
stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen
in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in
Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge-
meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen,
dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga-
nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des
psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein-
richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht
percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck-
mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste

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[30/0044] Das Vorstellen und die Bewegung. welche ihn an allen jenen Orten treffen, in Bewegung gesetzt und präsidirt dann jenen instinktiven Bewegungen und Handlungen, die dem geistigen Gebiete zum Theil ganz entzogen sind, zum Theil in verschiedenen Höhen dasselbe erreichen und damit seinen fördernden oder hemmenden Einfluss erleiden. Andrerseits aber mischen sich die Schemata dieser grösseren Bewegungsimpulse, ideale Reproduc- tionen derselben, auch in unsere geistigen Prozesse in der Weise ein, dass sie als wesentliche Bestandtheile in das einzelne Vorstellen eingehen. Damit aber nimmt das Vorstellen selbst eine motorische, auf die Muskelbewegung tendirende Richtung an, und es wird da- durch zum Streben. Unser Vorstellen erregt unsre willkührlichen Bewegungen niemals in der Art, dass es einzelne Muskeln zur Contraction auffordert; es weiss vielmehr von diesen Muskeln gar nichts, sondern kennt nur die inneren, von früheren Be- wegungsreihen zurückgebliebenen Bilder, die, einmal zu freien Bewegungsimpulsen geworden, dann ohne weiteres Zuthun des Vorstellens die Muskeln in grösseren zweckmässig coordinirten Gruppen in Thätigkeit setzen (Gehen, Schreiben etc.). In den beschränkter localisirten Gehirnkrankheiten, den Krankheiten der Brücke, des kleinen Gehirns, der thalami, der corpp. striata etc. sehen wir gewöhnlich Störungen dieses Mechanismus, Aufhebung seines Zusammenhangs mit dem Vor- stellen, wo dann bald durch den Krankheitsreiz erregte complicirte Bewegungen (Vorwärtslaufen, Drehbewegungen etc.) unwillkührlich ausgeführt werden, bald, wegen mechanischer Trennung der Gehirnsubstanz, der Einfluss des Vorstellens diesen Mechanismus nicht mehr erreichen kann (z. B. Lähmungen einer Körper- hälfte bei Extravasaten in den corpp. striat.); auch verschiedene Mischungen von beidem Verhalten kommen zuweilen und zwar auf ganz beschränkten Bewegungs- gebieten, z. B. dem der Sprachorgane, vor; so z. B. dass die vorgestellten Worte nicht ausgesprochen werden können, dagegen nicht vorgestellte hergesagt werden müssen. §. 20. Die Einmischung der Bewegungsanschauungen in unser Vorstellen ist der vermittelnde Process, durch den jede Aeusserung unsers gei- stigen Lebens hindurch muss. Dass aber dem psychischen Geschehen in uns überhaupt die Tendenz innewohnt, sich zu äussern, sich in Bewegung und Handlung darzustellen, diess beruht auf jener allge- meinsten Grundthatsache, der wir überall im Nervensystem begegnen, dass nämlich die centripetalen Erregungszustände in den Centralorga- nen in motorische Impulse umschlagen. In verschiedenen Höhen des psychischen Lebens sehen wir verschiedene Erfolge aus dieser Ein- richtung sich ergeben. Im Rückenmarke erregen die noch gar nicht percipirten centripetalen Eindrücke unzweckmässige oder halb zweck- mässige Bewegungen einzelner Muskel und Muskelgruppen (einfachste

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/44>, abgerufen am 28.03.2024.