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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Triebe.
sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur-
sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer,
wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern
auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen
im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man
zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be-
treffenden Objecte ganz fehlen können.

Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem
peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden
Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders
können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte
Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor-
stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen
erst zu Trieben.

Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb,
auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf-
niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor-
stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen
auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss
Empfundenen, das Handeln bestimmen.

§. 21.

Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder
schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen
(S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge-
weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon
ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be-
kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus
diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände.

Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes
Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts
oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die
Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande,
den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se-
xuellen Empfindungen auch aufhört.

Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze
der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo
gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B.
die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu-
sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson-
ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche
liegen.

Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs- und Ge-
schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem

Die Triebe.
sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur-
sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer,
wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern
auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen
im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man
zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be-
treffenden Objecte ganz fehlen können.

Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem
peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden
Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders
können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte
Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor-
stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen
erst zu Trieben.

Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb,
auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf-
niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor-
stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen
auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss
Empfundenen, das Handeln bestimmen.

§. 21.

Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder
schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen
(S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge-
weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon
ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be-
kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus
diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände.

Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes
Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts
oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die
Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande,
den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se-
xuellen Empfindungen auch aufhört.

Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze
der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo
gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B.
die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu-
sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson-
ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche
liegen.

Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs- und Ge-
schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem

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[32/0046] Die Triebe. sind der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb, ganz dunkel und in ihren Ur- sprüngen unerforscht sind die Kunsttriebe vieler Thiere. Doch sind es immer, wenigstens beim Menschen, nicht allein die Empfindungen, als solche, sondern auch dunkle, mit ihnen zusammenhängende, schon von ihnen geweckte Bewegungen im Vorstellen selbst, die die Grundlage des Triebs geben, Bewegungen, die man zum Theil als Gefühle bezeichnet, bei denen aber deutliche Vorstellungen der be- treffenden Objecte ganz fehlen können. Alle Triebe gehören beim Menschen wesentlich dem Gehirn und nicht dem peripherischen Nervensystem an. Mögen die Ausgangspunkte der betreffenden Empfindungen in den entferntesten Theilen des Organismus liegen, nirgends anders können diese Empfindungen den Mechanismus afficiren, mittelst dessen complicirte Bewegungen realisirt werden, nirgends anders kann sich ihnen jenes dunkle Vor- stellen beimischen, als im Gehirn; durch beides aber werden die Empfindungen erst zu Trieben. Man spricht auch von geistigen Trieben, Wissenstrieb, Sammeltrieb, auch Familientrieb, Trieb der Kinderliebe etc.; man meint auch hier das Bedürf- niss zu gewissen Thätigkeiten, angeregt durch einzelne, stehend gewordene Vor- stellungsmassen, die aber nicht in ein bestimmtes, deutliches Einzel-Vorstellen auseinandergehen, sondern ungeschieden, mit der dunkeln Abstractheit des bloss Empfundenen, das Handeln bestimmen. §. 21. Durch die Triebe werden mit grösster Leichtigkeit stärkere oder schwächere, anhaltendere oder vorübergehendere Gemüthsbewegungen (S. §. 27.) gesetzt, und indem die Triebe und die von ihnen ge- weckten Gefühle sich dem Vorstellen beimischen, nimmt dieses schon ein bewegliches, nach aussen drängendes Element in sich auf, be- kommt zugleich etwas Warmes, Sinnliches, und es ergeben sich aus diesen Mischungen ganz neue Seelenzustände. Die Verhältnisse des Verkehrs beider Geschlechter bieten hiefür ein gutes Beispiel. Das ästhetische Wohlgefallen an einer Individualität anderen Geschlechts oder die verständige Ueberzeugung von deren Vorzügen werden erst durch die Einmischung sexueller Empfindungen und Regungen zu dem neuen Seelenzustande, den man im Ganzen als Liebe bezeichnet, und der mit dem Erlöschen der se- xuellen Empfindungen auch aufhört. Es hat nichts Widersinniges, einzelne Orte im Gehirne als Sitze der sinnlichen Triebe aufzusuchen; es müssten diejenigen sein, wo gewisse Empfindungsnerven und ihre centralen Ausbreitungen, z. B. die des Vagus, die der Sexualorgane mit den motor. Apparaten zu- sammentreffen. Aber es ist bis jetzt weder erwiesen, noch beson- ders wahrscheinlich, dass diese Orte gerade auf der Gehirnoberfläche liegen. Bei Geisteskranken sieht man sehr oft nicht nur den Nahrungs- und Ge- schlechtstrieb rücksichtslos sich äussern; es kommen auch neue, namentlich dem

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/46>, abgerufen am 29.03.2024.