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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Ich.
schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen
auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift.

§. 25.

Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei-
tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän-
gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein-
zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein-
zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor-
gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver-
hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend
gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen
Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver-
hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt-
eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen
und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich
zu bezeichnen.

Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige
Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist,
und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer
neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens
zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und
erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs
als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf.
Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen
Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern
es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte
Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann
in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen
oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich
repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten.
Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben,
und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen.
Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von
selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs-
complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch
nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam
entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens
eine harmonirende Grundrichtung -- als Beispiel solcher verschiedenen
Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer-
seits dienen -- sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der

Das Ich.
schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen
auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift.

§. 25.

Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei-
tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän-
gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein-
zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein-
zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor-
gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver-
hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend
gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen
Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver-
hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt-
eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen
und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich
zu bezeichnen.

Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige
Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist,
und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer
neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens
zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und
erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs
als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf.
Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen
Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern
es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte
Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann
in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen
oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich
repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten.
Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben,
und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen.
Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von
selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs-
complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch
nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam
entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens
eine harmonirende Grundrichtung — als Beispiel solcher verschiedenen
Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer-
seits dienen — sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der

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[38/0052] Das Ich. schwieriger zugänglichen Begriff der Freiheit anzuknüpfen; ein näheres Eingehen auf diese Lehren liegt aber nicht in der Tendenz dieser Schrift. §. 25. Im Laufe unseres Lebens bilden sich, vermöge der fortschrei- tenden Verbindung der Vorstellungen, immer mehr zusammenhän- gende, grosse Vorstellungsmassen. Ihre Eigenthümlichkeit beim ein- zelnen Menschen wird nicht nur von dem speciellen Inhalt der ein- zelnen, durch Sinneswahrnehmung und äussere Erlebnisse hervor- gerufenen Vorstellungen, sondern auch von ihrem habituellen Ver- hältnisse zu den Trieben und zum Wollen, und von den stehend gewordenen, hemmenden oder fördernden Einflüssen aus dem ganzen Organismus bestimmt. Schon das Kind kommt dazu, aus seinen ver- hältnissmässig noch einfachen Vorstellungsmassen einen Gesammt- eindruck zu erhalten, den es, sobald das Material gehörig gewachsen und erstarkt ist, anfängt, mit einem abstracten Ausdrucke, dem Ich zu bezeichnen. Das Ich ist eine Abstraction, in der das einzelne bisherige Empfinden, Denken und Wollen zusammengewickelt enthalten ist, und die sich im Fortgang der psychischen Prozesse mit einem immer neuen Inhalte füllt. Aber diese Assimilation des neuen Vorstellens zu dem vorhandenen Ich geschieht nicht auf einmal, es wächst und erstarkt sehr allmählig, und das noch Nicht-Assimilirte tritt anfangs als ein Gegensatz zu dem Ich, als ein Du im Menschen auf. Nach und nach bleibt es nicht mehr bei einem einzigen solchen Complexe von Vorstellen und Wollen, der das Ich vorstellt, sondern es bilden sich mehre solche geschlossene, gegliederte und erstarkte Vorstellungsmassen; zwei (und nicht nur zwei) Seelen wohnen dann in des Menschen Brust, und je nach dem Vorherrschen der einen oder der andern dieser Vorstellungsmassen, die nun alle das Ich repräsentiren können, wechselt dieses oder wird in sich gespalten. Hieraus kann sich Widerspruch und Widerstreit im Innern ergeben, und solcher ergibt sich auch wirklich in jedem denkenden Menschen. Die Lösung desselben bringen glückliche, harmonische Naturen von selbst mit, indem sich in allen diesen verschiedenen Vorstellungs- complexen einige allgemeine, in allen wiederkehrende, wenn auch nur dunkle und nicht deutlich sagbare Grundanschauungen gemeinsam entwickeln, wodurch auf allen Gebieten des Denkens und Wollens eine harmonirende Grundrichtung — als Beispiel solcher verschiedenen Grundrichtungen mag der Glaube einerseits, der Empirismus andrer- seits dienen — sich ergibt. Es ist nun die höchste Aufgabe der

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/52>, abgerufen am 29.03.2024.