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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Das Gemüth.
erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne
Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird
nun nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich
unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über-
haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen,
die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte,
ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit,
sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit,
welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und
die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist
mit Einem Worte der psychische Tonus. *)

Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als
ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als
ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist
das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die
Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität
der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit
von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen
herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes
nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird
es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung,
Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken-
der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu-
weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen
kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus-
druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die
Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter-
brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich
unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den
parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul-
sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge-
müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen.

Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu-
schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme
Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent-
stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr
mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen,
bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass
dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen,
aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein
Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. --

*) Vgl. des Vfs. Aufsatz über psych. Reflexactionen. Archiv für physiolog.
Heilkunde. II. 1843. p. 95.

Das Gemüth.
erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne
Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird
nun nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich
unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über-
haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen,
die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte,
ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit,
sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit,
welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und
die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist
mit Einem Worte der psychische Tonus. *)

Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als
ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als
ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist
das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die
Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität
der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit
von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen
herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes
nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird
es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung,
Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken-
der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu-
weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen
kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus-
druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die
Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter-
brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich
unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den
parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul-
sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge-
müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen.

Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu-
schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme
Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent-
stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr
mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen,
bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass
dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen,
aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein
Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. —

*) Vgl. des Vfs. Aufsatz über psych. Reflexactionen. Archiv für physiolog.
Heilkunde. II. 1843. p. 95.
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[43/0057] Das Gemüth. erschüttert wird und in Schwanken geräth, was (§. 27.) niemals ohne Gefühle geschehen kann. Bei dieser Störung der Gemüthsruhe wird nun nichts anderes gestört, als die gewohnte ruhige Art, wie sich unser Ich zum eben vorhandenen Vorstellen verhält, wie sich über- haupt die mehrfachen Massen von Vorstellungen und Strebungen, die wir in uns finden, zu einander verhalten. Dieses gewohnte, ruhige Verhältniss ist aber keine absolute Ruhe oder Unthätigkeit, sondern es ist das Resultat einer mässigen, mittleren Thätigkeit, welches zugleich das erworbene mittlere Mass psychischer Kraft und die gewohnte Richtung des psychischen Lebens repräsentirt; es ist mit Einem Worte der psychische Tonus. *) Der Rückenmarkstonus, der sich in den Muskeln, dem Zellgewebe etc. als ein mittlerer, gewohnter Grad von Contraction, auf Seiten der Empfindung als ein mittlerer Grad von Schmerzempfänglichkeit und Reizbarkeit ausspricht, ist das Product nicht der einzelnen Empfindung und Bewegung, sondern der, in die Einheit und Allgemeinheit eines mittleren Reizzustandes untergegangenen Totalität der Empfindungen und Bewegungsimpulse; er beruht auf einem mittleren Facit von Erregung, das aus all diesen einzelnen centralen Nerventhätigkeiten zusammen herausgekommen ist. Dieser mittlere Zustand scheinbarer Ruhe wird als Ganzes nicht von jeder Empfindung und Bewegung unterbrochen und gestört, aber er wird es durch alle starken und plötzlichen Empfindungen und Bewegungen (Ermüdung, Schmerz etc.) Auf beiden Gebieten ist der Tonus natürlich das einemal schwanken- der und variabler, als zu andern Zeiten, je nach dem Zustande des Organs; zu- weilen kann jeder kleine Reiz Ermüdung, Schmerz, Convulsionen machen; zuweilen kann einen die Fliege an der Wand ärgern. Es ist nicht der gewöhnliche Aus- druck, und es wäre allzuabstract, aber es wäre nicht unrichtig, den Tetanus, die Convulsionen etc. als Abänderungen des Tonus (einseitige Steigerung, Unter- brechung etc.) aufzufassen; denn unzweifelhaft leidet der Tonus hier sogleich unter der vorhandenen Störung. Ebenso ist die auffallendste Störung bei den parallelen Geisteszuständen (dem psychischen Schmerz, der psychischen Convul- sion) die Störung des Gemüths, und in diesem Sinn ist überhaupt von den Ge- müthsleiden und ihrer Primitivität beim Irresein zu sprechen. Gemüthlich nennen wir den Menschen, dessen Ich nicht allzu- schwer in Bewegung geräth, wo desshalb angenehme oder unangenehme Gefühle, Theilnahme, Mitleid, Wohlwollen, Abneigung etc. leicht ent- stehen. So erfreulich diese Eigenschaft ist, so bringt sie die Gefahr mit, dass es gerne bei diesen dunkeln Urtheilen, den Gefühlen, bleibt, dass diese nicht in ein klares Denken auseinandergehen, dass dieses sogar verlernt wird und der Mensch nach blossen Gefühlen, aus denen er nicht mehr herauswill, sein Handeln einrichtet und sein Leben gestaltet. Diess ist das im schlimmen Sinne Gemüthliche. — *) Vgl. des Vfs. Aufsatz über psych. Reflexactionen. Archiv für physiolog. Heilkunde. II. 1843. p. 95.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/57>, abgerufen am 19.04.2024.