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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Realität dieser Empfindungen.

Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig
in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen.
So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural-
gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu-
sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un-
gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von
Esquirol *), wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der
Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: "Warte, Bösewicht,
du sollst mir nicht entgehen."

Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von
Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz
scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die
Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr
reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences medicales,
in besonderen Abdrücken und in seinen "Geisteskrankheiten". Müller, über
phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lelut, über folie sensoriale.
Gazette med. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen.
Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes-
täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par.
1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten,
übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837.
Baillarger, in Archiv. gener. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog.
Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu-
mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traite p. 180 seqq. etc.; Sino-
gowitz
, die Geistesstörungen. Berlin 1843.

§. 46.

Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem
Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen
Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese
verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen
sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört,
riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören,
und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so
erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner
Kranken bekam (Fragmens. p. 203): "Ich höre Stimmen, weil -- ich
sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich
eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich-
keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich-
keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei-
cher Weise fühlbar." So haben für das Urtheil des Hallucinanten

*) Die Geisteskrankheiten etc. von Bernhard. I. p. 112.
Realität dieser Empfindungen.

Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig
in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen.
So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural-
gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu-
sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un-
gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von
Esquirol *), wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der
Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: „Warte, Bösewicht,
du sollst mir nicht entgehen.“

Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von
Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz
scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die
Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr
reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences médicales,
in besonderen Abdrücken und in seinen „Geisteskrankheiten“. Müller, über
phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lélut, über folie sensoriale.
Gazette méd. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen.
Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes-
täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par.
1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten,
übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837.
Baillarger, in Archiv. génér. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog.
Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu-
mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traité p. 180 seqq. etc.; Sino-
gowitz
, die Geistesstörungen. Berlin 1843.

§. 46.

Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem
Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen
Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese
verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen
sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört,
riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören,
und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so
erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner
Kranken bekam (Fragmens. p. 203): „Ich höre Stimmen, weil — ich
sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich
eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich-
keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich-
keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei-
cher Weise fühlbar.“ So haben für das Urtheil des Hallucinanten

*) Die Geisteskrankheiten etc. von Bernhard. I. p. 112.
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[69/0083] Realität dieser Empfindungen. Der Anlass zu dieser Empfindung braucht auch nicht nothwendig in der Aussenwelt, er kann auch im eigenen Organismus liegen. So werden die falschen Deutungen, welchen peripherische (neural- gische, rheumatische) Schmerzen unterworfen werden, zu den Illu- sionen gerechnet, z. B. der Wahn, schwanger zu sein, der aus un- gewohnten Abdominal-Empfindungen hervorgeht, oder jener Fall von Esquirol *), wo ein Kranker Schmerzen im Knie hat und nun mit der Faust darauf schlägt, indem er immer ausruft: „Warte, Bösewicht, du sollst mir nicht entgehen.“ Die genauere Unterscheidung der Hallucinationen und Illusionen rührt von Esquirol her; sie verdient beibehalten zu werden, wenn sie gleich nicht ganz scharf durchzuführen ist. Namentlich im Geschmacksinn und im Hautsinn ist die Unterscheidung oft nicht möglich. Die Literatur über die Sinnesdelirien ist sehr reichhaltig. Esquirol, mehre Aufsätze im Dictionnaire des sciences médicales, in besonderen Abdrücken und in seinen „Geisteskrankheiten“. Müller, über phantast. Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. Lélut, über folie sensoriale. Gazette méd. 1833. Bird, thatsächliche Bemerkungen über Sinnestäuschungen. Friedreichs Magazin. Heft 17. 1831. Dietz, über die Quelle der Sinnes- täuschungen. ibidem. Heft 3. 1832. Leuret, fragmens psychologiques. Par. 1834. Bottex, sur les hallucinations. Lyon 1836. Marc, Geisteskrankheiten, übersetzt von Ideler. I. 1843. Hagen, die Sinnestäuschungen. Leipzig 1837. Baillarger, in Archiv. génér. 1842. 3. Patterson, annal. med. psycholog. Mars. 1844. Ausserdem die Schriften von Arnold, Reil, Haslam, Hoffbauer, Neu- mann, Friedreich, Jessen, Archambault in Ellis traité p. 180 seqq. etc.; Sino- gowitz, die Geistesstörungen. Berlin 1843. §. 46. Hallucinationen kommen in allen Sinnen, dem Gesicht, Gehör, dem Geruch, Geschmack und der Hautempfindung vor. Bei den einzelnen Kranken sind bald diese, bald jene, häufig mehre, zuweilen alle diese verschiedenen Sinnesthätigkeiten zugleich befallen. Die Hallucinationen sind wirkliche Empfindungen, keine Einbildungen; der Kranke sieht, hört, riecht dabei wirklich, er glaubt nicht bloss zu sehen oder zu hören, und will man das Sinnendelirium mit Vernunftgründen bekämpfen, so erhält man gewöhnlich Antworten, wie sie Leuret von einem seiner Kranken bekam (Fragmens. p. 203): „Ich höre Stimmen, weil — ich sie höre; wie sie entstehen, weiss ich nicht, aber sie sind für mich eben so deutlich, wie Ihre eigene Stimme; soll ich an die Wirklich- keit Ihrer Reden glauben, so müssen Sie mich auch an die Wirklich- keit jener Reden glauben lassen, denn beide sind für mich in glei- cher Weise fühlbar.“ So haben für das Urtheil des Hallucinanten *) Die Geisteskrankheiten etc. von Bernhard. I. p. 112.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/83>, abgerufen am 19.04.2024.