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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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II. allgemeine vergleichung der conjugation.
II. erwägung der schwachen conjugation.

Die schwache form ist ohne zweifel jünger, als die starke*)
a) weil letztere mannigfaltig, erstere einförmig ist; b) nur
die starke reine wurzeln enthält, die schwache ableitung
voraussetzt; g) weil fremde wörter der schwachen,
nicht der starken form fähig werden; ausnahmen höchst
selten und an sich tadelhaft (preisen von preis, franz.
prix) d) die starke allmählig ab-. die schwache zu-
nimmt; wenn sich das edlere getriebe jener vernützt,
wirrt und räthselhaft erscheint, dient die festere, äußere
handhabe dieser leicht zur erhaltung und herstellung der
verlorenen ordnung.

Jedes schwache verbum beruht wesentlich auf zwei
stücken 1) auf einer durch die vocale i, o und ai ge-
wirkten ableitung, von welcher im folgenden buch
nähere rede seyn wird. Man merke a) diese ablei-
tungsvocale verwachsen mehrfältig mit den flexionsvoca-
len, woraus ei statt ji (s. 847.) o statt oa, oi (s. 849.) a
statt aia, ai st. aji (s. 850) entspringt. b) später schwin-
det das ableitende i und ein tonloses e vertritt o und e.
g) daher gewinnen manche schwache verba den fal-
schen schein unabgeleiteter, z. b. das mittelh. baden, hant-
slagen, minnen wird den starken verbis laden, tragen,
winnen ähnlich (alth. padon, hantslakon, minnon) und
neuh. fällt sogar der inf. rathschlagen mit schlagen (mit-
telh. ratslagen und slahen, slan) zusammen, so daß
unhistorische sprachlehrer nicht begreifen, warum jenes
im praet. rathschlagte, dieses schlaug bekommt. d) zu
einer vergleichung der ableitungstriebe i (ei), o, ai bei
dem verbum mit den in der flexion des nomens wal-
tenden i, ei, o, ai (vgl. s. 811. 812.) ist der jetzige
stand unserer sprachforschung noch nicht gerüstet. --

*) Wenn ich benennungen wähle, welche schon bei der
haupteintheilung des nomens vorkommen, so behaupte
ich gar nicht, daß mit stark und schwach beidemahl ge-
nau derselbe begriff verbunden werden müße. Von redupl.
und ablaut weiß die starke decl. nichts, weil das nomen
kein verhältnis der zeit beachtet und dem eingeschobnen
n schwacher decl. mangelt die bestimmte beziehung aufs
praet., welche dem eingeschalteten d schwacher conj. eigen ist.
Ich strebte nach einem namen der nicht unbehülflich wäre
und der sache wenigstens etwas abgewönne. Daß in decl.
wie in conj. die starke form die ältere, krästigere, innere;
die schwache die spätere, gehemmtere und mehr äußer-
liche sey, leuchtet ein.
II. allgemeine vergleichung der conjugation.
II. erwägung der ſchwachen conjugation.

Die ſchwache form iſt ohne zweifel jünger, als die ſtarke*)
α) weil letztere mannigfaltig, erſtere einförmig iſt; β) nur
die ſtarke reine wurzeln enthält, die ſchwache ableitung
vorausſetzt; γ) weil fremde wörter der ſchwachen,
nicht der ſtarken form fähig werden; ausnahmen höchſt
ſelten und an ſich tadelhaft (preiſen von preis, franz.
prix) δ) die ſtarke allmählig ab-. die ſchwache zu-
nimmt; wenn ſich das edlere getriebe jener vernützt,
wirrt und räthſelhaft erſcheint, dient die feſtere, äußere
handhabe dieſer leicht zur erhaltung und herſtellung der
verlorenen ordnung.

Jedes ſchwache verbum beruht weſentlich auf zwei
ſtücken 1) auf einer durch die vocale i, ô und ái ge-
wirkten ableitung, von welcher im folgenden buch
nähere rede ſeyn wird. Man merke α) dieſe ablei-
tungsvocale verwachſen mehrfältig mit den flexionsvoca-
len, woraus ei ſtatt ji (ſ. 847.) ô ſtatt ôa, ôi (ſ. 849.) a
ſtatt áia, ái ſt. aji (ſ. 850) entſpringt. β) ſpäter ſchwin-
det das ableitende i und ein tonloſes e vertritt ô und ê.
γ) daher gewinnen manche ſchwache verba den fal-
ſchen ſchein unabgeleiteter, z. b. das mittelh. baden, hant-
ſlagen, minnen wird den ſtarken verbis laden, tragen,
winnen ähnlich (alth. padôn, hantſlakôn, minnôn) und
neuh. fällt ſogar der inf. rathſchlâgen mit ſchlâgen (mit-
telh. râtſlagen und ſlahen, ſlân) zuſammen, ſo daß
unhiſtoriſche ſprachlehrer nicht begreifen, warum jenes
im praet. rathſchlâgte, dieſes ſchlûg bekommt. δ) zu
einer vergleichung der ableitungstriebe i (ei), ô, ái bei
dem verbum mit den in der flexion des nomens wal-
tenden i, ei, ô, ái (vgl. ſ. 811. 812.) iſt der jetzige
ſtand unſerer ſprachforſchung noch nicht gerüſtet. —

*) Wenn ich benennungen wähle, welche ſchon bei der
haupteintheilung des nomens vorkommen, ſo behaupte
ich gar nicht, daß mit ſtark und ſchwach beidemahl ge-
nau derſelbe begriff verbunden werden müße. Von redupl.
und ablaut weiß die ſtarke decl. nichts, weil das nomen
kein verhältnis der zeit beachtet und dem eingeſchobnen
n ſchwacher decl. mangelt die beſtimmte beziehung aufs
praet., welche dem eingeſchalteten d ſchwacher conj. eigen iſt.
Ich ſtrebte nach einem namen der nicht unbehülflich wäre
und der ſache wenigſtens etwas abgewönne. Daß in decl.
wie in conj. die ſtarke form die ältere, kräſtigere, innere;
die ſchwache die ſpätere, gehemmtere und mehr äußer-
liche ſey, leuchtet ein.
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[1040/1066] II. allgemeine vergleichung der conjugation. II. erwägung der ſchwachen conjugation. Die ſchwache form iſt ohne zweifel jünger, als die ſtarke *) α) weil letztere mannigfaltig, erſtere einförmig iſt; β) nur die ſtarke reine wurzeln enthält, die ſchwache ableitung vorausſetzt; γ) weil fremde wörter der ſchwachen, nicht der ſtarken form fähig werden; ausnahmen höchſt ſelten und an ſich tadelhaft (preiſen von preis, franz. prix) δ) die ſtarke allmählig ab-. die ſchwache zu- nimmt; wenn ſich das edlere getriebe jener vernützt, wirrt und räthſelhaft erſcheint, dient die feſtere, äußere handhabe dieſer leicht zur erhaltung und herſtellung der verlorenen ordnung. Jedes ſchwache verbum beruht weſentlich auf zwei ſtücken 1) auf einer durch die vocale i, ô und ái ge- wirkten ableitung, von welcher im folgenden buch nähere rede ſeyn wird. Man merke α) dieſe ablei- tungsvocale verwachſen mehrfältig mit den flexionsvoca- len, woraus ei ſtatt ji (ſ. 847.) ô ſtatt ôa, ôi (ſ. 849.) a ſtatt áia, ái ſt. aji (ſ. 850) entſpringt. β) ſpäter ſchwin- det das ableitende i und ein tonloſes e vertritt ô und ê. γ) daher gewinnen manche ſchwache verba den fal- ſchen ſchein unabgeleiteter, z. b. das mittelh. baden, hant- ſlagen, minnen wird den ſtarken verbis laden, tragen, winnen ähnlich (alth. padôn, hantſlakôn, minnôn) und neuh. fällt ſogar der inf. rathſchlâgen mit ſchlâgen (mit- telh. râtſlagen und ſlahen, ſlân) zuſammen, ſo daß unhiſtoriſche ſprachlehrer nicht begreifen, warum jenes im praet. rathſchlâgte, dieſes ſchlûg bekommt. δ) zu einer vergleichung der ableitungstriebe i (ei), ô, ái bei dem verbum mit den in der flexion des nomens wal- tenden i, ei, ô, ái (vgl. ſ. 811. 812.) iſt der jetzige ſtand unſerer ſprachforſchung noch nicht gerüſtet. — *) Wenn ich benennungen wähle, welche ſchon bei der haupteintheilung des nomens vorkommen, ſo behaupte ich gar nicht, daß mit ſtark und ſchwach beidemahl ge- nau derſelbe begriff verbunden werden müße. Von redupl. und ablaut weiß die ſtarke decl. nichts, weil das nomen kein verhältnis der zeit beachtet und dem eingeſchobnen n ſchwacher decl. mangelt die beſtimmte beziehung aufs praet., welche dem eingeſchalteten d ſchwacher conj. eigen iſt. Ich ſtrebte nach einem namen der nicht unbehülflich wäre und der ſache wenigſtens etwas abgewönne. Daß in decl. wie in conj. die ſtarke form die ältere, kräſtigere, innere; die ſchwache die ſpätere, gehemmtere und mehr äußer- liche ſey, leuchtet ein.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 1040. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/1066>, abgerufen am 26.04.2024.