Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

I. von den buchstaben insgemein.
einen strich überflüßig und in so weit hinderlich dünken,
als sie mit dem tonzeichen verwirrt, auch beim zusam-
menstoß des strichs und der punctierten vocale änßerlich
unbequem ausfällt.

5) schließlich bemerke ich als wichtigen grund
für das ehmahlige vorhandenseyn einer deutschen pro-
sodie, daß in der lithauischen (altpreußischen) und let-
tischen sprache noch bis auf den heutigen tag der unter-
schied zwischen quantität und betonung lebt und beider
gesetz in der rede befolgt wird, wie man sich aus Ru-
higs und Stenders grammatiken darüber belehren kann.
Da nun kein anderer fremder sprachstamm den unsrigen
so nahe berührt, als eben dieser lettische und seine
gleichsam stillgestandene, noch jetzt so vollkommene
form und flexion die deutschen alten dialecte, darunter
den gothischen am meisten beleuchtet; so scheint mir
die annahme unvermeidlich, daß in letzteren ebenfalls
eine nunmehr verlorene verflechtung beider grundge-
setze, des der prosodie und des accentes, statt gefunden
habe. Ist aber das prosodische princip einmahl dagewe-
sen, so wird es kaum fehlen, daß noch in der heutigen
sprache, vielmehr in den älteren, spur und nachwirkung
davon übrig sey, zu deren entdeckung und aufklärung
das studium der lithauischen und lettischen sprache ein
großes beitragen kann.

Anmerkung über den accent.

Der laut (sonus) ist die aussprache der stimme selbst,
den dauernden laut mißt das gesetz der quantität. Der
ton (tonus, accentus) aber ist die den laut begleitende
hebung oder senkung der stimme. Von frühe an war
gewiß auch ton in der sprache und verflochten mit ihrer
eigensten besonderheit; die quantität scheint etwas all-
gemeineres, gleichsam die poetische, der accent die
prosaische lebendigkeit der sprache zu umfaßen. Hieraus
läßt sich der allmählige untergang der quantität und die
zunehmende ausdehnung des tons begreifen. Der ton
muß auch als eine hauptursache vieler veränderungen
der sprache angesehn werden, indem er flexions- und
bildungsendungen zu seiner hebung heran und dadurch
zusammenzieht, in seinen senkungen aber den wahren
laut der buchstaben beschädiget und verdunkelt. Der
eigentliche ton beruht auf dem acutus (hochton), wozu

I. von den buchſtaben insgemein.
einen ſtrich überflüßig und in ſo weit hinderlich dünken,
als ſie mit dem tonzeichen verwirrt, auch beim zuſam-
menſtoß des ſtrichs und der punctierten vocale änßerlich
unbequem ausfällt.

5) ſchließlich bemerke ich als wichtigen grund
für das ehmahlige vorhandenſeyn einer deutſchen pro-
ſodie, daß in der lithauiſchen (altpreußiſchen) und let-
tiſchen ſprache noch bis auf den heutigen tag der unter-
ſchied zwiſchen quantität und betonung lebt und beider
geſetz in der rede befolgt wird, wie man ſich aus Ru-
higs und Stenders grammatiken darüber belehren kann.
Da nun kein anderer fremder ſprachſtamm den unſrigen
ſo nahe berührt, als eben dieſer lettiſche und ſeine
gleichſam ſtillgeſtandene, noch jetzt ſo vollkommene
form und flexion die deutſchen alten dialecte, darunter
den gothiſchen am meiſten beleuchtet; ſo ſcheint mir
die annahme unvermeidlich, daß in letzteren ebenfalls
eine nunmehr verlorene verflechtung beider grundge-
ſetze, des der proſodie und des accentes, ſtatt gefunden
habe. Iſt aber das proſodiſche princip einmahl dagewe-
ſen, ſo wird es kaum fehlen, daß noch in der heutigen
ſprache, vielmehr in den älteren, ſpur und nachwirkung
davon übrig ſey, zu deren entdeckung und aufklärung
das ſtudium der lithauiſchen und lettiſchen ſprache ein
großes beitragen kann.

Anmerkung über den accent.

Der laut (ſonus) iſt die ausſprache der ſtimme ſelbſt,
den dauernden laut mißt das geſetz der quantität. Der
ton (tonus, accentus) aber iſt die den laut begleitende
hebung oder ſenkung der ſtimme. Von frühe an war
gewiß auch ton in der ſprache und verflochten mit ihrer
eigenſten beſonderheit; die quantität ſcheint etwas all-
gemeineres, gleichſam die poëtiſche, der accent die
proſaiſche lebendigkeit der ſprache zu umfaßen. Hieraus
läßt ſich der allmählige untergang der quantität und die
zunehmende ausdehnung des tons begreifen. Der ton
muß auch als eine haupturſache vieler veränderungen
der ſprache angeſehn werden, indem er flexions- und
bildungsendungen zu ſeiner hebung heran und dadurch
zuſammenzieht, in ſeinen ſenkungen aber den wahren
laut der buchſtaben beſchädiget und verdunkelt. Der
eigentliche ton beruht auf dem acutus (hochton), wozu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0046" n="20"/><fw place="top" type="header">I. <hi rendition="#i">von den buch&#x017F;taben insgemein.</hi></fw><lb/>
einen &#x017F;trich überflüßig und in &#x017F;o weit hinderlich dünken,<lb/>
als &#x017F;ie mit dem tonzeichen verwirrt, auch beim zu&#x017F;am-<lb/>
men&#x017F;toß des &#x017F;trichs und der punctierten vocale änßerlich<lb/>
unbequem ausfällt.</p><lb/>
          <p>5) &#x017F;chließlich bemerke ich als wichtigen grund<lb/>
für das ehmahlige vorhanden&#x017F;eyn einer deut&#x017F;chen pro-<lb/>
&#x017F;odie, daß in der lithaui&#x017F;chen (altpreußi&#x017F;chen) und let-<lb/>
ti&#x017F;chen &#x017F;prache noch bis auf den heutigen tag der unter-<lb/>
&#x017F;chied zwi&#x017F;chen quantität und betonung lebt und beider<lb/>
ge&#x017F;etz in der rede befolgt wird, wie man &#x017F;ich aus Ru-<lb/>
higs und Stenders grammatiken darüber belehren kann.<lb/>
Da nun kein anderer fremder &#x017F;prach&#x017F;tamm den un&#x017F;rigen<lb/>
&#x017F;o nahe berührt, als eben die&#x017F;er letti&#x017F;che und &#x017F;eine<lb/>
gleich&#x017F;am &#x017F;tillge&#x017F;tandene, noch jetzt &#x017F;o vollkommene<lb/>
form und flexion die deut&#x017F;chen alten dialecte, darunter<lb/>
den gothi&#x017F;chen am mei&#x017F;ten beleuchtet; &#x017F;o &#x017F;cheint mir<lb/>
die annahme unvermeidlich, daß in letzteren ebenfalls<lb/>
eine nunmehr verlorene verflechtung beider grundge-<lb/>
&#x017F;etze, des der pro&#x017F;odie und des accentes, &#x017F;tatt gefunden<lb/>
habe. I&#x017F;t aber das pro&#x017F;odi&#x017F;che princip einmahl dagewe-<lb/>
&#x017F;en, &#x017F;o wird es kaum fehlen, daß noch in der heutigen<lb/>
&#x017F;prache, vielmehr in den älteren, &#x017F;pur und nachwirkung<lb/>
davon übrig &#x017F;ey, zu deren entdeckung und aufklärung<lb/>
das &#x017F;tudium der lithaui&#x017F;chen und letti&#x017F;chen &#x017F;prache ein<lb/>
großes beitragen kann.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#i">Anmerkung über den accent.</hi> </head><lb/>
          <p>Der laut (&#x017F;onus) i&#x017F;t die aus&#x017F;prache der &#x017F;timme &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
den dauernden laut mißt das ge&#x017F;etz der quantität. Der<lb/><hi rendition="#i">ton</hi> (tonus, accentus) aber i&#x017F;t die den laut begleitende<lb/>
hebung oder &#x017F;enkung der &#x017F;timme. Von frühe an war<lb/>
gewiß auch ton in der &#x017F;prache und verflochten mit ihrer<lb/>
eigen&#x017F;ten be&#x017F;onderheit; die quantität &#x017F;cheint etwas all-<lb/>
gemeineres, gleich&#x017F;am die poëti&#x017F;che, der accent die<lb/>
pro&#x017F;ai&#x017F;che lebendigkeit der &#x017F;prache zu umfaßen. Hieraus<lb/>
läßt &#x017F;ich der allmählige untergang der quantität und die<lb/>
zunehmende ausdehnung des tons begreifen. Der ton<lb/>
muß auch als eine hauptur&#x017F;ache vieler veränderungen<lb/>
der &#x017F;prache ange&#x017F;ehn werden, indem er flexions- und<lb/>
bildungsendungen zu &#x017F;einer hebung heran und dadurch<lb/>
zu&#x017F;ammenzieht, in &#x017F;einen &#x017F;enkungen aber den wahren<lb/>
laut der buch&#x017F;taben be&#x017F;chädiget und verdunkelt. Der<lb/>
eigentliche ton beruht auf dem <hi rendition="#i">acutus</hi> (<hi rendition="#i">hochton</hi>), wozu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0046] I. von den buchſtaben insgemein. einen ſtrich überflüßig und in ſo weit hinderlich dünken, als ſie mit dem tonzeichen verwirrt, auch beim zuſam- menſtoß des ſtrichs und der punctierten vocale änßerlich unbequem ausfällt. 5) ſchließlich bemerke ich als wichtigen grund für das ehmahlige vorhandenſeyn einer deutſchen pro- ſodie, daß in der lithauiſchen (altpreußiſchen) und let- tiſchen ſprache noch bis auf den heutigen tag der unter- ſchied zwiſchen quantität und betonung lebt und beider geſetz in der rede befolgt wird, wie man ſich aus Ru- higs und Stenders grammatiken darüber belehren kann. Da nun kein anderer fremder ſprachſtamm den unſrigen ſo nahe berührt, als eben dieſer lettiſche und ſeine gleichſam ſtillgeſtandene, noch jetzt ſo vollkommene form und flexion die deutſchen alten dialecte, darunter den gothiſchen am meiſten beleuchtet; ſo ſcheint mir die annahme unvermeidlich, daß in letzteren ebenfalls eine nunmehr verlorene verflechtung beider grundge- ſetze, des der proſodie und des accentes, ſtatt gefunden habe. Iſt aber das proſodiſche princip einmahl dagewe- ſen, ſo wird es kaum fehlen, daß noch in der heutigen ſprache, vielmehr in den älteren, ſpur und nachwirkung davon übrig ſey, zu deren entdeckung und aufklärung das ſtudium der lithauiſchen und lettiſchen ſprache ein großes beitragen kann. Anmerkung über den accent. Der laut (ſonus) iſt die ausſprache der ſtimme ſelbſt, den dauernden laut mißt das geſetz der quantität. Der ton (tonus, accentus) aber iſt die den laut begleitende hebung oder ſenkung der ſtimme. Von frühe an war gewiß auch ton in der ſprache und verflochten mit ihrer eigenſten beſonderheit; die quantität ſcheint etwas all- gemeineres, gleichſam die poëtiſche, der accent die proſaiſche lebendigkeit der ſprache zu umfaßen. Hieraus läßt ſich der allmählige untergang der quantität und die zunehmende ausdehnung des tons begreifen. Der ton muß auch als eine haupturſache vieler veränderungen der ſprache angeſehn werden, indem er flexions- und bildungsendungen zu ſeiner hebung heran und dadurch zuſammenzieht, in ſeinen ſenkungen aber den wahren laut der buchſtaben beſchädiget und verdunkelt. Der eigentliche ton beruht auf dem acutus (hochton), wozu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/46
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/46>, abgerufen am 25.04.2024.