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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. neuhochdeutsche vocale.
hier so mannigfalt, verwickelt und schlüpfrig, daß es
schon vieler anstalten bedarf, um über die natur eines
einzelnen volksdialectes ins klare zu kommen. ge-
schweige mehrerer und aller. Jede gemeine volksmund-
art, wie mir scheint, gewährt eine doppelte seite, die
bei der buchstabenlehre besonders einleuchten. Sie steht
über der gebildeten schriftsprache durch ihre lebendig-
keit und ungezwungenheit, selbst in fehlerhaften bleibt
sie natürlich; tief unter der schriftsprache durch ihre
rohheit, d. h. den mangel an bewußtseyn und haltung.
Im einzelnen kann die volkssprache weniger verloren
haben, als die gebildete schriftsprache; dafür hat sie nie
gleich dieser etwas im ganzen gewonnen. Der gang
der schriftsprache läßt sich periodisch verfolgen; in der
mundart des volks versinkt einzelnes beinahe unver-
merkt und was sie zu besitzen fortfährt ist ungleich
oder unvollständig vgl. s. 451. 452. Erst wenn die ge-
schichte der buchstaben nach den denkmählern der
schriftsprache ergründet seyn wird, können lücken ver-
schiedener zeitalter durch trümmer ergänzt und erläutert
werden, die in den lebenden dialecten des volks fort-
dauern.

Neuhochdeutsche vocale.

Das org. verhältnis der längen und kürzen (in be-
tonten silben) hat sich nach und nach aufgelöst. Kurzer
vocal gilt nur noch 1) vor geminiertem cons., welcher
in der regel in- und auslautend geschrieben wird, z. b.
mann (vir) mannes, sinn (sensus) sinnes, krumm (cur-
vus) krummes. Zuweilen auslautend der einfache, als:
man (impers.) in (praep.) um (praep.) 2) vor cons. ver-
bindungen, als: hand (manus) welt (mundus) kind (in-
fans) wort (verbum) jung (juv.) mit ausnahme verschie-
dener, in denen sich das gefühl vorgefallener syncope
lebendig erhalten hat, z. b. bart, pferd (gleichsam st.
baret, pfered) etc. Um so vielmehr in wart (curat) ert
(honorat) st. waret, eret Langer hingegen 1) organisch.
2) unorganisch vor jedem einfachen cons., die wenigen
fälle abgerechnet, wo auslautende gemination ungeschrie-
ben bleibt. Den beweis der organ. länge liefert die ge-
schichte, den der unorg. aber der reim, theils auf org.
lange wörter, theils der klingende reim an sich; unzu-
reichend die schreibung. Nämlich in bezeichnung bei-
der längen hat sich die schreibung viele misbräuche an-
gewöhnt a) die länge der diphth. au, ei, eu, ie ist an

I. neuhochdeutſche vocale.
hier ſo mannigfalt, verwickelt und ſchlüpfrig, daß es
ſchon vieler anſtalten bedarf, um über die natur eines
einzelnen volksdialectes ins klare zu kommen. ge-
ſchweige mehrerer und aller. Jede gemeine volksmund-
art, wie mir ſcheint, gewährt eine doppelte ſeite, die
bei der buchſtabenlehre beſonders einleuchten. Sie ſteht
über der gebildeten ſchriftſprache durch ihre lebendig-
keit und ungezwungenheit, ſelbſt in fehlerhaften bleibt
ſie natürlich; tief unter der ſchriftſprache durch ihre
rohheit, d. h. den mangel an bewußtſeyn und haltung.
Im einzelnen kann die volksſprache weniger verloren
haben, als die gebildete ſchriftſprache; dafür hat ſie nie
gleich dieſer etwas im ganzen gewonnen. Der gang
der ſchriftſprache läßt ſich periodiſch verfolgen; in der
mundart des volks verſinkt einzelnes beinahe unver-
merkt und was ſie zu beſitzen fortfährt iſt ungleich
oder unvollſtändig vgl. ſ. 451. 452. Erſt wenn die ge-
ſchichte der buchſtaben nach den denkmählern der
ſchriftſprache ergründet ſeyn wird, können lücken ver-
ſchiedener zeitalter durch trümmer ergänzt und erläutert
werden, die in den lebenden dialecten des volks fort-
dauern.

Neuhochdeutſche vocale.

Das org. verhältnis der längen und kürzen (in be-
tonten ſilben) hat ſich nach und nach aufgelöſt. Kurzer
vocal gilt nur noch 1) vor geminiertem conſ., welcher
in der regel in- und auslautend geſchrieben wird, z. b.
mann (vir) mannes, ſinn (ſenſus) ſinnes, krumm (cur-
vus) krummes. Zuweilen auslautend der einfache, als:
man (imperſ.) in (praep.) um (praep.) 2) vor conſ. ver-
bindungen, als: hand (manus) welt (mundus) kind (in-
fans) wort (verbum) jung (juv.) mit ausnahme verſchie-
dener, in denen ſich das gefühl vorgefallener ſyncope
lebendig erhalten hat, z. b. bârt, pfêrd (gleichſam ſt.
bâret, pfèred) etc. Um ſo vielmehr in wârt (curat) êrt
(honorat) ſt. wâret, êret Langer hingegen 1) organiſch.
2) unorganiſch vor jedem einfachen conſ., die wenigen
fälle abgerechnet, wo auslautende gemination ungeſchrie-
ben bleibt. Den beweis der organ. länge liefert die ge-
ſchichte, den der unorg. aber der reim, theils auf org.
lange wörter, theils der klingende reim an ſich; unzu-
reichend die ſchreibung. Nämlich in bezeichnung bei-
der längen hat ſich die ſchreibung viele misbräuche an-
gewöhnt α) die länge der diphth. au, ei, eu, ie iſt an

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[518/0544] I. neuhochdeutſche vocale. hier ſo mannigfalt, verwickelt und ſchlüpfrig, daß es ſchon vieler anſtalten bedarf, um über die natur eines einzelnen volksdialectes ins klare zu kommen. ge- ſchweige mehrerer und aller. Jede gemeine volksmund- art, wie mir ſcheint, gewährt eine doppelte ſeite, die bei der buchſtabenlehre beſonders einleuchten. Sie ſteht über der gebildeten ſchriftſprache durch ihre lebendig- keit und ungezwungenheit, ſelbſt in fehlerhaften bleibt ſie natürlich; tief unter der ſchriftſprache durch ihre rohheit, d. h. den mangel an bewußtſeyn und haltung. Im einzelnen kann die volksſprache weniger verloren haben, als die gebildete ſchriftſprache; dafür hat ſie nie gleich dieſer etwas im ganzen gewonnen. Der gang der ſchriftſprache läßt ſich periodiſch verfolgen; in der mundart des volks verſinkt einzelnes beinahe unver- merkt und was ſie zu beſitzen fortfährt iſt ungleich oder unvollſtändig vgl. ſ. 451. 452. Erſt wenn die ge- ſchichte der buchſtaben nach den denkmählern der ſchriftſprache ergründet ſeyn wird, können lücken ver- ſchiedener zeitalter durch trümmer ergänzt und erläutert werden, die in den lebenden dialecten des volks fort- dauern. Neuhochdeutſche vocale. Das org. verhältnis der längen und kürzen (in be- tonten ſilben) hat ſich nach und nach aufgelöſt. Kurzer vocal gilt nur noch 1) vor geminiertem conſ., welcher in der regel in- und auslautend geſchrieben wird, z. b. mann (vir) mannes, ſinn (ſenſus) ſinnes, krumm (cur- vus) krummes. Zuweilen auslautend der einfache, als: man (imperſ.) in (praep.) um (praep.) 2) vor conſ. ver- bindungen, als: hand (manus) welt (mundus) kind (in- fans) wort (verbum) jung (juv.) mit ausnahme verſchie- dener, in denen ſich das gefühl vorgefallener ſyncope lebendig erhalten hat, z. b. bârt, pfêrd (gleichſam ſt. bâret, pfèred) etc. Um ſo vielmehr in wârt (curat) êrt (honorat) ſt. wâret, êret Langer hingegen 1) organiſch. 2) unorganiſch vor jedem einfachen conſ., die wenigen fälle abgerechnet, wo auslautende gemination ungeſchrie- ben bleibt. Den beweis der organ. länge liefert die ge- ſchichte, den der unorg. aber der reim, theils auf org. lange wörter, theils der klingende reim an ſich; unzu- reichend die ſchreibung. Nämlich in bezeichnung bei- der längen hat ſich die ſchreibung viele misbräuche an- gewöhnt α) die länge der diphth. au, ei, eu, ie iſt an

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/544>, abgerufen am 29.03.2024.