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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. reinvocalische -- consonant. ableitungen.
pereie) andächtel-ei, seien nun verba oder subst.
stamm. Der häufige ausgang-n-ei, -r-ei veranlaßte
aber den misbrauch, daß man von den bloßen pluralfor-
men länder, graeser, bücher, kinder: länder-ei --
kinder-ei bildete, ja endlich -rei für den bildungstrieb
nehmend, es an einfache wörter (wo gar kein -r-ei
denkbar ist) hieng: ziere-rei, rase-rei, sclave-rei, schel-
me-rei, bübe-rei, saeme-rei, schweine-rei etc., statt wel-
ches unfühlende sprachlehrer gar ein noch unleidlicheres
sam-ei, schwein-ei empfohlen haben. In fremden wör-
tern wurde bald tieftoniges -ei gelaßen, wie partei, schal-
mei, türkei, barbarei, pedanterei etc., bald die französ.
aussprache hergestellt: astronomie, theorie, artillerie (wo-
für im 15-17 jahrh. durchaus -ei) einigen ländernamen
hingegen -ien gegeben: italien, romanien, gallien, spanien
etc., nach der analogie von schweden, franken, hessen
(d. h. schweden-land etc.) vgl. 1, 779. 780 oder stammt
persien, indien aus dem alten persian, indian? -- d)
ebenso sehr oder noch mehr häufen sich neuniederl. ab-
leitungen -ei (geschrieben ij oder y) als: vogd-ei, her-
schapp-ei, matschapp-ei, woesten-ei, jager-ei, boever-ei, ver-
wer-ei, asgoder-ei, verrader-ei etc. und ähnlich dem nhd. -rei
hat sich ein unorg. -nei nach der bildung -er in folgende
wörter gedrängt: lazer-nei (lepra) razer-nei (furor) slaver-nei
(servitus) spotter-nei (derisio) zotter-nei (stultitia) dorper-nei
st. lazer-ei, razer-ei. -- e) seltner sind verba auf -eien ge-
bildet worden, mhd. benedeien, verketzereien (MS. 2, 129a)
merßeien (Trist. 24b); nhd. benedeien, vermaledeien, schal-
meien, casteien, prophezeien und noch einige, ein nhd.
-reien ist unstatthaft, z. b. kein verketzereien. -- Daß in
allen unter a bis d berührten fällen das undeutsche, spä-
ter noch vom flexionsvocal entbundne -ei, -ei dem unter
1. genannten goth. -ei, ahd. -ei, welches in neuern mund-
arten unbetontes -e wird, unvergleichbar sei, noch daraus
entsprungen sein könne, liegt am tage.

II. consonantische ableitungen.

Vorbemerkungen: 1) alle einzelnen consonanten jedes
organs besitzen ableitende kraft, doch vor allen thätig
sind die liquiden.

2) jedem ableitungsconsonanten geht ein vocal voraus,
oder scheint ihm ursprünglich vorausgegangen zu sein; von
diesen begleitenden vocalen bemerke ich im allgemeinen
a) es kommen die drei kurzen a(e), i(e), u(o), aber nur

G

III. reinvocaliſche — conſonant. ableitungen.
perîe) andächtel-ei, ſeien nun verba oder ſubſt.
ſtamm. Der häufige ausgang-n-ei, -r-ei veranlaßte
aber den misbrauch, daß man von den bloßen pluralfor-
men länder, græſer, buͤcher, kinder: länder-ei —
kinder-ei bildete, ja endlich -rei für den bildungstrieb
nehmend, es an einfache wörter (wo gar kein -r-ei
denkbar iſt) hieng: ziere-rei, râſe-rei, ſclâve-rei, ſchel-
me-rei, bübe-rei, ſæme-rei, ſchweine-rei etc., ſtatt wel-
ches unfühlende ſprachlehrer gar ein noch unleidlicheres
ſâm-ei, ſchwein-ei empfohlen haben. In fremden wör-
tern wurde bald tieftoniges -ei gelaßen, wie partei, ſchal-
mei, türkei, barbarei, pedanterei etc., bald die franzöſ.
ausſprache hergeſtellt: aſtronomie, theorie, artillerie (wo-
für im 15-17 jahrh. durchaus -ei) einigen ländernamen
hingegen -ien gegeben: italien, romanien, gallien, ſpanien
etc., nach der analogie von ſchwêden, franken, heſſen
(d. h. ſchwêden-land etc.) vgl. 1, 779. 780 oder ſtammt
perſien, indien aus dem alten perſiân, indiân? — δ)
ebenſo ſehr oder noch mehr häufen ſich neuniederl. ab-
leitungen -î (geſchrieben ij oder y) als: vôgd-î, hêr-
ſchapp-î, mâtſchapp-î, woeſten-î, jâger-î, boever-î, ver-
wer-î, aſgoder-î, verrâder-î etc. und ähnlich dem nhd. -rei
hat ſich ein unorg. -nî nach der bildung -er in folgende
wörter gedrängt: lâzer-nî (lepra) râzer-nî (furor) ſlâver-nî
(ſervitus) ſpotter-nî (deriſio) zotter-nî (ſtultitia) dorper-nî
ſt. lazer-î, râzer-î. — ε) ſeltner ſind verba auf -îen ge-
bildet worden, mhd. benedîen, verketzerîen (MS. 2, 129a)
merƷîen (Triſt. 24b); nhd. benedeien, vermaledeien, ſchal-
meien, caſteien, prophezeien und noch einige, ein nhd.
-reien iſt unſtatthaft, z. b. kein verketzereien. — Daß in
allen unter α bis δ berührten fällen das undeutſche, ſpä-
ter noch vom flexionsvocal entbundne -î, -ei dem unter
1. genannten goth. -ei, ahd. -î, welches in neuern mund-
arten unbetontes -e wird, unvergleichbar ſei, noch daraus
entſprungen ſein könne, liegt am tage.

II. conſonantiſche ableitungen.

Vorbemerkungen: 1) alle einzelnen conſonanten jedes
organs beſitzen ableitende kraft, doch vor allen thätig
ſind die liquiden.

2) jedem ableitungsconſonanten geht ein vocal voraus,
oder ſcheint ihm urſprünglich vorausgegangen zu ſein; von
dieſen begleitenden vocalen bemerke ich im allgemeinen
α) es kommen die drei kurzen a(e), i(ë), u(o), aber nur

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[97/0115] III. reinvocaliſche — conſonant. ableitungen. perîe) andächtel-ei, ſeien nun verba oder ſubſt. ſtamm. Der häufige ausgang-n-ei, -r-ei veranlaßte aber den misbrauch, daß man von den bloßen pluralfor- men länder, græſer, buͤcher, kinder: länder-ei — kinder-ei bildete, ja endlich -rei für den bildungstrieb nehmend, es an einfache wörter (wo gar kein -r-ei denkbar iſt) hieng: ziere-rei, râſe-rei, ſclâve-rei, ſchel- me-rei, bübe-rei, ſæme-rei, ſchweine-rei etc., ſtatt wel- ches unfühlende ſprachlehrer gar ein noch unleidlicheres ſâm-ei, ſchwein-ei empfohlen haben. In fremden wör- tern wurde bald tieftoniges -ei gelaßen, wie partei, ſchal- mei, türkei, barbarei, pedanterei etc., bald die franzöſ. ausſprache hergeſtellt: aſtronomie, theorie, artillerie (wo- für im 15-17 jahrh. durchaus -ei) einigen ländernamen hingegen -ien gegeben: italien, romanien, gallien, ſpanien etc., nach der analogie von ſchwêden, franken, heſſen (d. h. ſchwêden-land etc.) vgl. 1, 779. 780 oder ſtammt perſien, indien aus dem alten perſiân, indiân? — δ) ebenſo ſehr oder noch mehr häufen ſich neuniederl. ab- leitungen -î (geſchrieben ij oder y) als: vôgd-î, hêr- ſchapp-î, mâtſchapp-î, woeſten-î, jâger-î, boever-î, ver- wer-î, aſgoder-î, verrâder-î etc. und ähnlich dem nhd. -rei hat ſich ein unorg. -nî nach der bildung -er in folgende wörter gedrängt: lâzer-nî (lepra) râzer-nî (furor) ſlâver-nî (ſervitus) ſpotter-nî (deriſio) zotter-nî (ſtultitia) dorper-nî ſt. lazer-î, râzer-î. — ε) ſeltner ſind verba auf -îen ge- bildet worden, mhd. benedîen, verketzerîen (MS. 2, 129a) merƷîen (Triſt. 24b); nhd. benedeien, vermaledeien, ſchal- meien, caſteien, prophezeien und noch einige, ein nhd. -reien iſt unſtatthaft, z. b. kein verketzereien. — Daß in allen unter α bis δ berührten fällen das undeutſche, ſpä- ter noch vom flexionsvocal entbundne -î, -ei dem unter 1. genannten goth. -ei, ahd. -î, welches in neuern mund- arten unbetontes -e wird, unvergleichbar ſei, noch daraus entſprungen ſein könne, liegt am tage. II. conſonantiſche ableitungen. Vorbemerkungen: 1) alle einzelnen conſonanten jedes organs beſitzen ableitende kraft, doch vor allen thätig ſind die liquiden. 2) jedem ableitungsconſonanten geht ein vocal voraus, oder ſcheint ihm urſprünglich vorausgegangen zu ſein; von dieſen begleitenden vocalen bemerke ich im allgemeinen α) es kommen die drei kurzen a(e), i(ë), u(o), aber nur G

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/115>, abgerufen am 19.04.2024.