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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Vorrede.

Wir finden es wohl, wenn Sturm oder
anderes Unglück, vom Himmel geschickt, eine
ganze Saat zu Boden geschlagen, daß noch
bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die
am Wege stehen, ein kleiner Platz sich ge-
sichert und einzelne Aehren aufrecht geblie-
ben sind. Scheint dann die Sonne wieder
günstig, so wachsen sie einsam und unbeach-
tet fort, keine frühe Sichel schneidet sie für
die großen Vorrathskammern, aber im Spät-
sommer, wenn sie reif und voll geworden,
kommen arme, fromme Hände, die sie su-
chen; und Aehre an Aehre gelegt, sorgfältig
gebunden und höher geachtet, als ganze
Garben, werden sie heimgetragen und Win-
terlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der
einzige Samen für die Zukunft. So ist es
uns, wenn wir den Reichthum deutscher
Dichtung in frühen Zeiten betrachten, und


Vorrede.

Wir finden es wohl, wenn Sturm oder
anderes Ungluͤck, vom Himmel geſchickt, eine
ganze Saat zu Boden geſchlagen, daß noch
bei niedrigen Hecken oder Straͤuchen, die
am Wege ſtehen, ein kleiner Platz ſich ge-
ſichert und einzelne Aehren aufrecht geblie-
ben ſind. Scheint dann die Sonne wieder
guͤnſtig, ſo wachſen ſie einſam und unbeach-
tet fort, keine fruͤhe Sichel ſchneidet ſie fuͤr
die großen Vorrathskammern, aber im Spaͤt-
ſommer, wenn ſie reif und voll geworden,
kommen arme, fromme Haͤnde, die ſie ſu-
chen; und Aehre an Aehre gelegt, ſorgfaͤltig
gebunden und hoͤher geachtet, als ganze
Garben, werden ſie heimgetragen und Win-
terlang ſind ſie Nahrung, vielleicht auch der
einzige Samen fuͤr die Zukunft. So iſt es
uns, wenn wir den Reichthum deutſcher
Dichtung in fruͤhen Zeiten betrachten, und

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[[V]/0011] Vorrede. Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Ungluͤck, vom Himmel geſchickt, eine ganze Saat zu Boden geſchlagen, daß noch bei niedrigen Hecken oder Straͤuchen, die am Wege ſtehen, ein kleiner Platz ſich ge- ſichert und einzelne Aehren aufrecht geblie- ben ſind. Scheint dann die Sonne wieder guͤnſtig, ſo wachſen ſie einſam und unbeach- tet fort, keine fruͤhe Sichel ſchneidet ſie fuͤr die großen Vorrathskammern, aber im Spaͤt- ſommer, wenn ſie reif und voll geworden, kommen arme, fromme Haͤnde, die ſie ſu- chen; und Aehre an Aehre gelegt, ſorgfaͤltig gebunden und hoͤher geachtet, als ganze Garben, werden ſie heimgetragen und Win- terlang ſind ſie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen fuͤr die Zukunft. So iſt es uns, wenn wir den Reichthum deutſcher Dichtung in fruͤhen Zeiten betrachten, und

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/11>, abgerufen am 18.04.2024.