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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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leih mir deins dazu, ich bring dirs Morgen
wieder." Und die Blindschleiche that es aus
Gefälligkeit.

Aber den andern Tag, wie die Nachtigall
nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so
wohl, daß sie zwei Augen im Kopf trug und
zu beiden Seiten sehen konnte, daß sie der ar-
men Blindschleiche ihr geliehenes Aug' nicht wie-
dergeben wollte. Da schwur die Blindschleiche,
sie wollte sich an ihr, an ihren Kindern und
Kindeskindern rächen. "Geh nur, sagte die
Nachtigall, und such einmal:

ich bau mein Nest auf jene Linden,
so hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
da magst dus nimmermehr finden!"

Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Au-
gen und alle Blindschleichen keine Augen. Aber
wo die Nachtigall hinbaut, da wohnt unten
auch im Busch eine Blindschleiche, und sie
trachtet immer hinaufzukriechen, Löcher in die
Eier ihrer Feindin zu bohren oder sie auszu-
saufen.

7.
Von dem gestohlenen Heller.

Es saß ein Vater mit seiner Frau und
seinen Kindern, und einem guten Freund, der
ihn besuchte, Mittags am Tisch. Wie sie so

leih mir deins dazu, ich bring dirs Morgen
wieder.“ Und die Blindſchleiche that es aus
Gefaͤlligkeit.

Aber den andern Tag, wie die Nachtigall
nach Haus gekommen war, gefiel es ihr ſo
wohl, daß ſie zwei Augen im Kopf trug und
zu beiden Seiten ſehen konnte, daß ſie der ar-
men Blindſchleiche ihr geliehenes Aug' nicht wie-
dergeben wollte. Da ſchwur die Blindſchleiche,
ſie wollte ſich an ihr, an ihren Kindern und
Kindeskindern raͤchen. „Geh nur, ſagte die
Nachtigall, und ſuch einmal:

ich bau mein Neſt auf jene Linden,
ſo hoch, ſo hoch, ſo hoch, ſo hoch,
da magſt dus nimmermehr finden!

Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Au-
gen und alle Blindſchleichen keine Augen. Aber
wo die Nachtigall hinbaut, da wohnt unten
auch im Buſch eine Blindſchleiche, und ſie
trachtet immer hinaufzukriechen, Loͤcher in die
Eier ihrer Feindin zu bohren oder ſie auszu-
ſaufen.

7.
Von dem geſtohlenen Heller.

Es ſaß ein Vater mit ſeiner Frau und
ſeinen Kindern, und einem guten Freund, der
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[21/0055] leih mir deins dazu, ich bring dirs Morgen wieder.“ Und die Blindſchleiche that es aus Gefaͤlligkeit. Aber den andern Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr ſo wohl, daß ſie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten ſehen konnte, daß ſie der ar- men Blindſchleiche ihr geliehenes Aug' nicht wie- dergeben wollte. Da ſchwur die Blindſchleiche, ſie wollte ſich an ihr, an ihren Kindern und Kindeskindern raͤchen. „Geh nur, ſagte die Nachtigall, und ſuch einmal: ich bau mein Neſt auf jene Linden, ſo hoch, ſo hoch, ſo hoch, ſo hoch, da magſt dus nimmermehr finden!“ Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Au- gen und alle Blindſchleichen keine Augen. Aber wo die Nachtigall hinbaut, da wohnt unten auch im Buſch eine Blindſchleiche, und ſie trachtet immer hinaufzukriechen, Loͤcher in die Eier ihrer Feindin zu bohren oder ſie auszu- ſaufen. 7. Von dem geſtohlenen Heller. Es ſaß ein Vater mit ſeiner Frau und ſeinen Kindern, und einem guten Freund, der ihn beſuchte, Mittags am Tiſch. Wie ſie ſo

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/55>, abgerufen am 16.04.2024.