Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ihr, Frau Königin, seyd die schönste Frau
im Land."

Und da wußte sie gewiß, daß niemand schöner
auf der Welt war. Sneewittchen aber wuchs
heran, und als es sieben Jahr alt war, war es
so schön, daß es selbst die Königin an Schön-
heit übertraf, und als diese ihren Spiegel
fragte:
"Spieglein, Spieglein an der Wand:
wer ist die schönste Frau in dem ganzen Land?"

sagte der Spiegel:
"Frau Königin, Ihr seyd die schönste hier,
aber Snewittchen ist noch tausendmal schöner
als Ihr!"

Wie die Königin den Spiegel so sprechen hör-
te, ward sie blaß vor Neid, und von Stund
an haßte sie das Sneewittchen, und wenn sie
es ansah, und gedacht, daß durch seine Schuld
sie nicht mehr die schönste auf der Welt sey,
kehrte sich ihr das Herz herum. Da ließ ihr
der Neid keine Ruhe, und sie rief einen Jäger
und sagte zu ihm: "führ das Sneewittchen
hinaus in den Wald an einen weiten abgelege-
nen Ort, da stichs todt, und zum Wahrzeichen
bring mir seine Lunge und seine Leber mit, die
will ich mit Salz kochen und essen." Der Jä-
ger nahm das Sneewittchen und führte es hin-

„Ihr, Frau Koͤnigin, ſeyd die ſchoͤnſte Frau
im Land.“

Und da wußte ſie gewiß, daß niemand ſchoͤner
auf der Welt war. Sneewittchen aber wuchs
heran, und als es ſieben Jahr alt war, war es
ſo ſchoͤn, daß es ſelbſt die Koͤnigin an Schoͤn-
heit uͤbertraf, und als dieſe ihren Spiegel
fragte:
„Spieglein, Spieglein an der Wand:
wer iſt die ſchoͤnſte Frau in dem ganzen Land?“

ſagte der Spiegel:
„Frau Koͤnigin, Ihr ſeyd die ſchoͤnſte hier,
aber Snewittchen iſt noch tauſendmal ſchoͤner
als Ihr!“

Wie die Koͤnigin den Spiegel ſo ſprechen hoͤr-
te, ward ſie blaß vor Neid, und von Stund
an haßte ſie das Sneewittchen, und wenn ſie
es anſah, und gedacht, daß durch ſeine Schuld
ſie nicht mehr die ſchoͤnſte auf der Welt ſey,
kehrte ſich ihr das Herz herum. Da ließ ihr
der Neid keine Ruhe, und ſie rief einen Jaͤger
und ſagte zu ihm: „fuͤhr das Sneewittchen
hinaus in den Wald an einen weiten abgelege-
nen Ort, da ſtichs todt, und zum Wahrzeichen
bring mir ſeine Lunge und ſeine Leber mit, die
will ich mit Salz kochen und eſſen.“ Der Jaͤ-
ger nahm das Sneewittchen und fuͤhrte es hin-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0273" n="239"/><lg type="poem"><l>&#x201E;Ihr, Frau Ko&#x0364;nigin, &#x017F;eyd die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Frau</l><lb/><l>im Land.&#x201C;</l></lg><lb/>
Und da wußte &#x017F;ie gewiß, daß niemand &#x017F;cho&#x0364;ner<lb/>
auf der Welt war. Sneewittchen aber wuchs<lb/>
heran, und als es &#x017F;ieben Jahr alt war, war es<lb/>
&#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n, daß es &#x017F;elb&#x017F;t die Ko&#x0364;nigin an Scho&#x0364;n-<lb/>
heit u&#x0364;bertraf, und als die&#x017F;e ihren Spiegel<lb/>
fragte:<lb/><lg type="poem"><l>&#x201E;Spieglein, Spieglein an der Wand:</l><lb/><l>wer i&#x017F;t die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Frau in dem ganzen Land?&#x201C;</l></lg><lb/>
&#x017F;agte der Spiegel:<lb/><lg type="poem"><l>&#x201E;Frau Ko&#x0364;nigin, Ihr &#x017F;eyd die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te hier,</l><lb/><l>aber Snewittchen i&#x017F;t noch tau&#x017F;endmal &#x017F;cho&#x0364;ner</l><lb/><l>als Ihr!&#x201C;</l></lg><lb/>
Wie die Ko&#x0364;nigin den Spiegel &#x017F;o &#x017F;prechen ho&#x0364;r-<lb/>
te, ward &#x017F;ie blaß vor Neid, und von Stund<lb/>
an haßte &#x017F;ie das Sneewittchen, und wenn &#x017F;ie<lb/>
es an&#x017F;ah, und gedacht, daß durch &#x017F;eine Schuld<lb/>
&#x017F;ie nicht mehr die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te auf der Welt &#x017F;ey,<lb/>
kehrte &#x017F;ich ihr das Herz herum. Da ließ ihr<lb/>
der Neid keine Ruhe, und &#x017F;ie rief einen Ja&#x0364;ger<lb/>
und &#x017F;agte zu ihm: &#x201E;fu&#x0364;hr das Sneewittchen<lb/>
hinaus in den Wald an einen weiten abgelege-<lb/>
nen Ort, da &#x017F;tichs todt, und zum Wahrzeichen<lb/>
bring mir &#x017F;eine Lunge und &#x017F;eine Leber mit, die<lb/>
will ich mit Salz kochen und e&#x017F;&#x017F;en.&#x201C; Der Ja&#x0364;-<lb/>
ger nahm das Sneewittchen und fu&#x0364;hrte es hin-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0273] „Ihr, Frau Koͤnigin, ſeyd die ſchoͤnſte Frau im Land.“ Und da wußte ſie gewiß, daß niemand ſchoͤner auf der Welt war. Sneewittchen aber wuchs heran, und als es ſieben Jahr alt war, war es ſo ſchoͤn, daß es ſelbſt die Koͤnigin an Schoͤn- heit uͤbertraf, und als dieſe ihren Spiegel fragte: „Spieglein, Spieglein an der Wand: wer iſt die ſchoͤnſte Frau in dem ganzen Land?“ ſagte der Spiegel: „Frau Koͤnigin, Ihr ſeyd die ſchoͤnſte hier, aber Snewittchen iſt noch tauſendmal ſchoͤner als Ihr!“ Wie die Koͤnigin den Spiegel ſo ſprechen hoͤr- te, ward ſie blaß vor Neid, und von Stund an haßte ſie das Sneewittchen, und wenn ſie es anſah, und gedacht, daß durch ſeine Schuld ſie nicht mehr die ſchoͤnſte auf der Welt ſey, kehrte ſich ihr das Herz herum. Da ließ ihr der Neid keine Ruhe, und ſie rief einen Jaͤger und ſagte zu ihm: „fuͤhr das Sneewittchen hinaus in den Wald an einen weiten abgelege- nen Ort, da ſtichs todt, und zum Wahrzeichen bring mir ſeine Lunge und ſeine Leber mit, die will ich mit Salz kochen und eſſen.“ Der Jaͤ- ger nahm das Sneewittchen und fuͤhrte es hin-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/273
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/273>, abgerufen am 19.04.2024.