Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

de giebt folgende Fragmente: "die Spinnmädchen
erzählen von einem jungen Schneidersgesel-
len
, der auf der Wanderschaft immer weiter und
weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit
Greifen, verwünschten Prinzessinnen, zaubernden
Zwergen und grimmigen bergeschaufelnden Riesen
zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand sie
nicht, wie die gewöhnliche Meinung ist, mit Bret-
tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil.
Engel mit Wetterbrauen, Blitzschmieden, Verar-
beitung des alten Sonnenscheins zu neuem Mond-
lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen-
scheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen
Dämmerungen der Sommernächte beschäftigt sieht.
Nein, das blaue Himmelsgewölbe senkte sich auf
die Fläche des Erdbodens wie ein Backofen. Der
Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke
aufgehn, und der Schneider ließ sich gelüsten, ihn
mit dem Zeigefinger zu berühren. Aber es
zischte, und Haut und Fleisch war bis an den Na-
gel hinweggesengt." -- Ein Theil der Fabel erin-
nert auch an das Altdän. Lied von Verner Ravn,
der von der Stiefmutter verflucht war, und dem
die Schwester ihr kleines Kind giebt, durch dessen
Auge- und Herzblut er seine menschliche Gestalt
wieder erlangte.



Hieran schließen wir noch eine märchenhafte
Erzählung vom Mond an, die in Menanders Frag-
menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen
erhalten ist, wozu man gleichfalls eine äsopische
Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. -- Der Mond
sprach einmal zu seiner Mutter: "die Nächte sind
so kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes
Kleid!" Sie nahm das Maaß, und er lief fort,
wie er aber wieder kam, war er so groß gewor-
den, daß das Röcklein nirgends passen wollte. Da
fing die Mutter an, und trennte die Nähte und
ließ aus, allein die Zeit währte dem Mond zu
lange, und er ging wieder fort seines Weges.
Emsig nähte die Mutter am Kleid, und saß man-
che Nacht auf beim Sternenschein. Der Mond
kam zurück, und hatte viel gelaufen, und hatte

de giebt folgende Fragmente: „die Spinnmaͤdchen
erzaͤhlen von einem jungen Schneidersgeſel-
len
, der auf der Wanderſchaft immer weiter und
weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit
Greifen, verwuͤnſchten Prinzeſſinnen, zaubernden
Zwergen und grimmigen bergeſchaufelnden Rieſen
zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand ſie
nicht, wie die gewoͤhnliche Meinung iſt, mit Bret-
tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil.
Engel mit Wetterbrauen, Blitzſchmieden, Verar-
beitung des alten Sonnenſcheins zu neuem Mond-
lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen-
ſcheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen
Daͤmmerungen der Sommernaͤchte beſchaͤftigt ſieht.
Nein, das blaue Himmelsgewoͤlbe ſenkte ſich auf
die Flaͤche des Erdbodens wie ein Backofen. Der
Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke
aufgehn, und der Schneider ließ ſich geluͤſten, ihn
mit dem Zeigefinger zu beruͤhren. Aber es
ziſchte, und Haut und Fleiſch war bis an den Na-
gel hinweggeſengt.“ — Ein Theil der Fabel erin-
nert auch an das Altdaͤn. Lied von Verner Ravn,
der von der Stiefmutter verflucht war, und dem
die Schweſter ihr kleines Kind giebt, durch deſſen
Auge- und Herzblut er ſeine menſchliche Geſtalt
wieder erlangte.



Hieran ſchließen wir noch eine maͤrchenhafte
Erzaͤhlung vom Mond an, die in Menanders Frag-
menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen
erhalten iſt, wozu man gleichfalls eine aͤſopiſche
Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. — Der Mond
ſprach einmal zu ſeiner Mutter: „die Naͤchte ſind
ſo kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes
Kleid!“ Sie nahm das Maaß, und er lief fort,
wie er aber wieder kam, war er ſo groß gewor-
den, daß das Roͤcklein nirgends paſſen wollte. Da
fing die Mutter an, und trennte die Naͤhte und
ließ aus, allein die Zeit waͤhrte dem Mond zu
lange, und er ging wieder fort ſeines Weges.
Emſig naͤhte die Mutter am Kleid, und ſaß man-
che Nacht auf beim Sternenſchein. Der Mond
kam zuruͤck, und hatte viel gelaufen, und hatte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0443" n="XXI"/>
de giebt folgende Fragmente: &#x201E;die Spinnma&#x0364;dchen<lb/>
erza&#x0364;hlen von einem jungen <hi rendition="#g">Schneidersge&#x017F;el-<lb/>
len</hi>, der auf der Wander&#x017F;chaft immer weiter und<lb/>
weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit<lb/>
Greifen, verwu&#x0364;n&#x017F;chten Prinze&#x017F;&#x017F;innen, zaubernden<lb/>
Zwergen und grimmigen berge&#x017F;chaufelnden Rie&#x017F;en<lb/>
zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand &#x017F;ie<lb/>
nicht, wie die gewo&#x0364;hnliche Meinung i&#x017F;t, mit Bret-<lb/>
tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil.<lb/>
Engel mit Wetterbrauen, Blitz&#x017F;chmieden, Verar-<lb/>
beitung des alten Sonnen&#x017F;cheins zu neuem Mond-<lb/>
lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen-<lb/>
&#x017F;cheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen<lb/>
Da&#x0364;mmerungen der Sommerna&#x0364;chte be&#x017F;cha&#x0364;ftigt &#x017F;ieht.<lb/>
Nein, das blaue Himmelsgewo&#x0364;lbe &#x017F;enkte &#x017F;ich auf<lb/>
die Fla&#x0364;che des Erdbodens wie ein Backofen. Der<lb/>
Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke<lb/>
aufgehn, und der Schneider ließ &#x017F;ich gelu&#x0364;&#x017F;ten, ihn<lb/>
mit <hi rendition="#g">dem Zeigefinger zu beru&#x0364;hren</hi>. Aber es<lb/>
zi&#x017F;chte, und Haut und Flei&#x017F;ch war bis an den Na-<lb/>
gel hinwegge&#x017F;engt.&#x201C; &#x2014; Ein Theil der Fabel erin-<lb/>
nert auch an das Altda&#x0364;n. Lied von Verner Ravn,<lb/>
der von der Stiefmutter verflucht war, und dem<lb/>
die Schwe&#x017F;ter ihr kleines Kind giebt, durch de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Auge- und Herzblut er &#x017F;eine men&#x017F;chliche Ge&#x017F;talt<lb/>
wieder erlangte.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Hieran &#x017F;chließen wir noch eine ma&#x0364;rchenhafte<lb/>
Erza&#x0364;hlung vom Mond an, die in Menanders Frag-<lb/>
menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen<lb/>
erhalten i&#x017F;t, wozu man gleichfalls eine a&#x0364;&#x017F;opi&#x017F;che<lb/>
Fabel (<hi rendition="#aq">edid Furia</hi> 396.) vergleiche. &#x2014; Der Mond<lb/>
&#x017F;prach einmal zu &#x017F;einer Mutter: &#x201E;die Na&#x0364;chte &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;o kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes<lb/>
Kleid!&#x201C; Sie nahm das Maaß, und er lief fort,<lb/>
wie er aber wieder kam, war er &#x017F;o groß gewor-<lb/>
den, daß das Ro&#x0364;cklein nirgends pa&#x017F;&#x017F;en wollte. Da<lb/>
fing die Mutter an, und trennte die Na&#x0364;hte und<lb/>
ließ aus, allein die Zeit wa&#x0364;hrte dem Mond zu<lb/>
lange, und er ging wieder fort &#x017F;eines Weges.<lb/>
Em&#x017F;ig na&#x0364;hte die Mutter am Kleid, und &#x017F;aß man-<lb/>
che Nacht auf beim Sternen&#x017F;chein. Der Mond<lb/>
kam zuru&#x0364;ck, und hatte viel gelaufen, und hatte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XXI/0443] de giebt folgende Fragmente: „die Spinnmaͤdchen erzaͤhlen von einem jungen Schneidersgeſel- len, der auf der Wanderſchaft immer weiter und weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit Greifen, verwuͤnſchten Prinzeſſinnen, zaubernden Zwergen und grimmigen bergeſchaufelnden Rieſen zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand ſie nicht, wie die gewoͤhnliche Meinung iſt, mit Bret- tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil. Engel mit Wetterbrauen, Blitzſchmieden, Verar- beitung des alten Sonnenſcheins zu neuem Mond- lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen- ſcheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen Daͤmmerungen der Sommernaͤchte beſchaͤftigt ſieht. Nein, das blaue Himmelsgewoͤlbe ſenkte ſich auf die Flaͤche des Erdbodens wie ein Backofen. Der Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke aufgehn, und der Schneider ließ ſich geluͤſten, ihn mit dem Zeigefinger zu beruͤhren. Aber es ziſchte, und Haut und Fleiſch war bis an den Na- gel hinweggeſengt.“ — Ein Theil der Fabel erin- nert auch an das Altdaͤn. Lied von Verner Ravn, der von der Stiefmutter verflucht war, und dem die Schweſter ihr kleines Kind giebt, durch deſſen Auge- und Herzblut er ſeine menſchliche Geſtalt wieder erlangte. Hieran ſchließen wir noch eine maͤrchenhafte Erzaͤhlung vom Mond an, die in Menanders Frag- menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen erhalten iſt, wozu man gleichfalls eine aͤſopiſche Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. — Der Mond ſprach einmal zu ſeiner Mutter: „die Naͤchte ſind ſo kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes Kleid!“ Sie nahm das Maaß, und er lief fort, wie er aber wieder kam, war er ſo groß gewor- den, daß das Roͤcklein nirgends paſſen wollte. Da fing die Mutter an, und trennte die Naͤhte und ließ aus, allein die Zeit waͤhrte dem Mond zu lange, und er ging wieder fort ſeines Weges. Emſig naͤhte die Mutter am Kleid, und ſaß man- che Nacht auf beim Sternenſchein. Der Mond kam zuruͤck, und hatte viel gelaufen, und hatte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/443
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. XXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/443>, abgerufen am 19.04.2024.