Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

nahm, gab er der Königin einen großen Kasten
mit Flachs und sagte: "der muß gesponnen
seyn, wann ich wieder komme." Die Prin-
zessinnen wurden betrübt und weinten: "wenn
wir das alles spinnen sollen, müssen wir den
ganzen Tag sitzen und dürfen nicht einmal auf-
stehen." Die Königin aber sprach: "tröstet
euch, ich will euch schon helfen. Da waren im
Lande drei besonders häßliche Jungfern, die er-
ste hatte eine so große Unterlippe, daß sie über
das Kinn herunterhing, die zweite hatte an der
rechten Hand den Zeigefinger so dick und breit,
daß man drei andere Finger hätte daraus ma-
chen können, die dritte hatte einen dicken breiten
Platschfuß, so breit wie ein halbes Kuchenbrett.
Die ließ die Königin zu sich fordern und an
dem Tage, wo der König heim kommen sollte,
setzte sie alle drei nebeneinander in ihre Stube,
gab ihnen ihre Spinnräder und da mußten sie
spinnen, auch sagte sie einer jeden, was sie auf
des Königs Fragen antworten solle. Als der
König anlangte, hörte er das Schnurren der
Räder von weitem, freute sich herzlich und ge-
dachte seine Töchter zu loben. Wie er aber in
die Stube kam und die drei garstigen Jungfern
da sitzen sah, erschrack er erstlich, dann trat er
hinzu und fragte die erste, woher sie die ent-
setzlich große Unterlippe habe? "vom Lecken,
vom Lecken!" Darauf die zweite, woher der

dicke

nahm, gab er der Koͤnigin einen großen Kaſten
mit Flachs und ſagte: „der muß geſponnen
ſeyn, wann ich wieder komme.“ Die Prin-
zeſſinnen wurden betruͤbt und weinten: „wenn
wir das alles ſpinnen ſollen, muͤſſen wir den
ganzen Tag ſitzen und duͤrfen nicht einmal auf-
ſtehen.“ Die Koͤnigin aber ſprach: „troͤſtet
euch, ich will euch ſchon helfen. Da waren im
Lande drei beſonders haͤßliche Jungfern, die er-
ſte hatte eine ſo große Unterlippe, daß ſie uͤber
das Kinn herunterhing, die zweite hatte an der
rechten Hand den Zeigefinger ſo dick und breit,
daß man drei andere Finger haͤtte daraus ma-
chen koͤnnen, die dritte hatte einen dicken breiten
Platſchfuß, ſo breit wie ein halbes Kuchenbrett.
Die ließ die Koͤnigin zu ſich fordern und an
dem Tage, wo der Koͤnig heim kommen ſollte,
ſetzte ſie alle drei nebeneinander in ihre Stube,
gab ihnen ihre Spinnraͤder und da mußten ſie
ſpinnen, auch ſagte ſie einer jeden, was ſie auf
des Koͤnigs Fragen antworten ſolle. Als der
Koͤnig anlangte, hoͤrte er das Schnurren der
Raͤder von weitem, freute ſich herzlich und ge-
dachte ſeine Toͤchter zu loben. Wie er aber in
die Stube kam und die drei garſtigen Jungfern
da ſitzen ſah, erſchrack er erſtlich, dann trat er
hinzu und fragte die erſte, woher ſie die ent-
ſetzlich große Unterlippe habe? „vom Lecken,
vom Lecken!“ Darauf die zweite, woher der

dicke
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0082" n="48"/>
nahm, gab er der Ko&#x0364;nigin einen großen Ka&#x017F;ten<lb/>
mit Flachs und &#x017F;agte: &#x201E;der muß ge&#x017F;ponnen<lb/>
&#x017F;eyn, wann ich wieder komme.&#x201C; Die Prin-<lb/>
ze&#x017F;&#x017F;innen wurden betru&#x0364;bt und weinten: &#x201E;wenn<lb/>
wir das alles &#x017F;pinnen &#x017F;ollen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir den<lb/>
ganzen Tag &#x017F;itzen und du&#x0364;rfen nicht einmal auf-<lb/>
&#x017F;tehen.&#x201C; Die Ko&#x0364;nigin aber &#x017F;prach: &#x201E;tro&#x0364;&#x017F;tet<lb/>
euch, ich will euch &#x017F;chon helfen. Da waren im<lb/>
Lande drei be&#x017F;onders ha&#x0364;ßliche Jungfern, die er-<lb/>
&#x017F;te hatte eine &#x017F;o große Unterlippe, daß &#x017F;ie u&#x0364;ber<lb/>
das Kinn herunterhing, die zweite hatte an der<lb/>
rechten Hand den Zeigefinger &#x017F;o dick und breit,<lb/>
daß man drei andere Finger ha&#x0364;tte daraus ma-<lb/>
chen ko&#x0364;nnen, die dritte hatte einen dicken breiten<lb/>
Plat&#x017F;chfuß, &#x017F;o breit wie ein halbes Kuchenbrett.<lb/>
Die ließ die Ko&#x0364;nigin zu &#x017F;ich fordern und an<lb/>
dem Tage, wo der Ko&#x0364;nig heim kommen &#x017F;ollte,<lb/>
&#x017F;etzte &#x017F;ie alle drei nebeneinander in ihre Stube,<lb/>
gab ihnen ihre Spinnra&#x0364;der und da mußten &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;pinnen, auch &#x017F;agte &#x017F;ie einer jeden, was &#x017F;ie auf<lb/>
des Ko&#x0364;nigs Fragen antworten &#x017F;olle. Als der<lb/>
Ko&#x0364;nig anlangte, ho&#x0364;rte er das Schnurren der<lb/>
Ra&#x0364;der von weitem, freute &#x017F;ich herzlich und ge-<lb/>
dachte &#x017F;eine To&#x0364;chter zu loben. Wie er aber in<lb/>
die Stube kam und die drei gar&#x017F;tigen Jungfern<lb/>
da &#x017F;itzen &#x017F;ah, er&#x017F;chrack er er&#x017F;tlich, dann trat er<lb/>
hinzu und fragte die er&#x017F;te, woher &#x017F;ie die ent-<lb/>
&#x017F;etzlich große Unterlippe habe? &#x201E;vom Lecken,<lb/>
vom Lecken!&#x201C; Darauf die zweite, woher der<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dicke</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0082] nahm, gab er der Koͤnigin einen großen Kaſten mit Flachs und ſagte: „der muß geſponnen ſeyn, wann ich wieder komme.“ Die Prin- zeſſinnen wurden betruͤbt und weinten: „wenn wir das alles ſpinnen ſollen, muͤſſen wir den ganzen Tag ſitzen und duͤrfen nicht einmal auf- ſtehen.“ Die Koͤnigin aber ſprach: „troͤſtet euch, ich will euch ſchon helfen. Da waren im Lande drei beſonders haͤßliche Jungfern, die er- ſte hatte eine ſo große Unterlippe, daß ſie uͤber das Kinn herunterhing, die zweite hatte an der rechten Hand den Zeigefinger ſo dick und breit, daß man drei andere Finger haͤtte daraus ma- chen koͤnnen, die dritte hatte einen dicken breiten Platſchfuß, ſo breit wie ein halbes Kuchenbrett. Die ließ die Koͤnigin zu ſich fordern und an dem Tage, wo der Koͤnig heim kommen ſollte, ſetzte ſie alle drei nebeneinander in ihre Stube, gab ihnen ihre Spinnraͤder und da mußten ſie ſpinnen, auch ſagte ſie einer jeden, was ſie auf des Koͤnigs Fragen antworten ſolle. Als der Koͤnig anlangte, hoͤrte er das Schnurren der Raͤder von weitem, freute ſich herzlich und ge- dachte ſeine Toͤchter zu loben. Wie er aber in die Stube kam und die drei garſtigen Jungfern da ſitzen ſah, erſchrack er erſtlich, dann trat er hinzu und fragte die erſte, woher ſie die ent- ſetzlich große Unterlippe habe? „vom Lecken, vom Lecken!“ Darauf die zweite, woher der dicke

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/82
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/82>, abgerufen am 20.04.2024.